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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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"Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter
aus dem alten irländischen Thurme an, um von
nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu
leben. Es war ein wohlgestaltetes Frauenzim¬
mer von großer Schönheit; doch war sie nicht
nur eine Schönheit, sondern auch eine Person,
die in ihren eigenen feinen Schuhen stand und
ging und sogleich den Eindruck machte, daß es
für den, der sich etwa in sie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen
Trost für diese gäbe, eben weil es eine ganze
und selbstständige Person schien, die so nicht zum
zweiten Male vorkommt. Und zwar schien diese
edle Selbstständigkeit gepaart mit der einfachsten
Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit
jener Lauterkeit und Rückhaltlosigkeit in dieser
Güte, welche, wenn sie so mit Entschiedenheit
und Bestimmtheit verbunden ist, eine wahre Über¬
legenheit verleiht und dem, was im Grunde
nur ein unbefangenes ursprüngliches Gemüths¬
wesen ist, den Schein einer weihevollen und
genialen Meisterschaft giebt. Indessen war sie
sehr gebildet in allen schönen Dingen, da sie
nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bis¬

»Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter
aus dem alten irländiſchen Thurme an, um von
nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu
leben. Es war ein wohlgeſtaltetes Frauenzim¬
mer von großer Schönheit; doch war ſie nicht
nur eine Schönheit, ſondern auch eine Perſon,
die in ihren eigenen feinen Schuhen ſtand und
ging und ſogleich den Eindruck machte, daß es
für den, der ſich etwa in ſie verliebte, nicht
leicht hinter jedem Hag einen Erſatz oder einen
Troſt für dieſe gäbe, eben weil es eine ganze
und ſelbſtſtändige Perſon ſchien, die ſo nicht zum
zweiten Male vorkommt. Und zwar ſchien dieſe
edle Selbſtſtändigkeit gepaart mit der einfachſten
Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit
jener Lauterkeit und Rückhaltloſigkeit in dieſer
Güte, welche, wenn ſie ſo mit Entſchiedenheit
und Beſtimmtheit verbunden iſt, eine wahre Über¬
legenheit verleiht und dem, was im Grunde
nur ein unbefangenes urſprüngliches Gemüths¬
weſen iſt, den Schein einer weihevollen und
genialen Meiſterſchaft giebt. Indeſſen war ſie
ſehr gebildet in allen ſchönen Dingen, da ſie
nach Art ſolcher Geſchöpfe die Kindheit und bis¬

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[50/0062] »Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter aus dem alten irländiſchen Thurme an, um von nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu leben. Es war ein wohlgeſtaltetes Frauenzim¬ mer von großer Schönheit; doch war ſie nicht nur eine Schönheit, ſondern auch eine Perſon, die in ihren eigenen feinen Schuhen ſtand und ging und ſogleich den Eindruck machte, daß es für den, der ſich etwa in ſie verliebte, nicht leicht hinter jedem Hag einen Erſatz oder einen Troſt für dieſe gäbe, eben weil es eine ganze und ſelbſtſtändige Perſon ſchien, die ſo nicht zum zweiten Male vorkommt. Und zwar ſchien dieſe edle Selbſtſtändigkeit gepaart mit der einfachſten Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit jener Lauterkeit und Rückhaltloſigkeit in dieſer Güte, welche, wenn ſie ſo mit Entſchiedenheit und Beſtimmtheit verbunden iſt, eine wahre Über¬ legenheit verleiht und dem, was im Grunde nur ein unbefangenes urſprüngliches Gemüths¬ weſen iſt, den Schein einer weihevollen und genialen Meiſterſchaft giebt. Indeſſen war ſie ſehr gebildet in allen ſchönen Dingen, da ſie nach Art ſolcher Geſchöpfe die Kindheit und bis¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/62>, abgerufen am 22.11.2024.