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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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den Besen, die Eule setzte sich hinter sie auf
den Stiel und Spiegel zuhinterst auf das Reisig¬
bündel und hielt sich da fest, und so ritten sie nach
dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um
den Schatz herauf zu holen.

Am Morgen erschien Spiegel bei Herrn
Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte
Person ansehen und freien könne; sie sei aber
allbereits so arm geworden, daß sie, gänzlich
verlassen und verstoßen, vor dem Thore unter
einem Baum sitze und bitterlich weine. Sogleich
kleidete sich Herr Pineiß in sein abgeschabtes
gelbes Sammtwämschen, das er nur bei feier¬
lichen Gelegenheiten trug, setzte die bessere Pu¬
delmütze auf und umgürtete sich mit seinem De¬
gen; in die Hand nahm er einen alten grünen
Handschuh, ein Balsamfläschchen, worin einst Bal¬
sam gewesen und das noch ein Bischen roch,
und eine papierne Nelke, worauf er mit Spie¬
gel vor das Thor ging, um zu freien. Dort
traf er ein weinendes Frauenzimmer sitzen unter
einem Weidenbaum, von so großer Schönheit, wie
er noch nie gesehen; aber ihr Gewand war so
dürftig und zerrissen, daß, sie mochte sich auch

den Beſen, die Eule ſetzte ſich hinter ſie auf
den Stiel und Spiegel zuhinterſt auf das Reiſig¬
bündel und hielt ſich da feſt, und ſo ritten ſie nach
dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um
den Schatz herauf zu holen.

Am Morgen erſchien Spiegel bei Herrn
Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte
Perſon anſehen und freien könne; ſie ſei aber
allbereits ſo arm geworden, daß ſie, gänzlich
verlaſſen und verſtoßen, vor dem Thore unter
einem Baum ſitze und bitterlich weine. Sogleich
kleidete ſich Herr Pineiß in ſein abgeſchabtes
gelbes Sammtwämschen, das er nur bei feier¬
lichen Gelegenheiten trug, ſetzte die beſſere Pu¬
delmütze auf und umgürtete ſich mit ſeinem De¬
gen; in die Hand nahm er einen alten grünen
Handſchuh, ein Balſamfläſchchen, worin einſt Bal¬
ſam geweſen und das noch ein Bischen roch,
und eine papierne Nelke, worauf er mit Spie¬
gel vor das Thor ging, um zu freien. Dort
traf er ein weinendes Frauenzimmer ſitzen unter
einem Weidenbaum, von ſo großer Schönheit, wie
er noch nie geſehen; aber ihr Gewand war ſo
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[520/0532] den Beſen, die Eule ſetzte ſich hinter ſie auf den Stiel und Spiegel zuhinterſt auf das Reiſig¬ bündel und hielt ſich da feſt, und ſo ritten ſie nach dem Brunnen, in welchen die Hexe hinabfuhr, um den Schatz herauf zu holen. Am Morgen erſchien Spiegel bei Herrn Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte Perſon anſehen und freien könne; ſie ſei aber allbereits ſo arm geworden, daß ſie, gänzlich verlaſſen und verſtoßen, vor dem Thore unter einem Baum ſitze und bitterlich weine. Sogleich kleidete ſich Herr Pineiß in ſein abgeſchabtes gelbes Sammtwämschen, das er nur bei feier¬ lichen Gelegenheiten trug, ſetzte die beſſere Pu¬ delmütze auf und umgürtete ſich mit ſeinem De¬ gen; in die Hand nahm er einen alten grünen Handſchuh, ein Balſamfläſchchen, worin einſt Bal¬ ſam geweſen und das noch ein Bischen roch, und eine papierne Nelke, worauf er mit Spie¬ gel vor das Thor ging, um zu freien. Dort traf er ein weinendes Frauenzimmer ſitzen unter einem Weidenbaum, von ſo großer Schönheit, wie er noch nie geſehen; aber ihr Gewand war ſo dürftig und zerriſſen, daß, ſie mochte ſich auch

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/532>, abgerufen am 30.04.2024.