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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Zeiten in ein Kloster gegangen. So liegt das
Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf
es nur holen." "Holt es geschwind! sagte
Spiegel, es wird gut sein zu unserm Zweck!"
"Ich will es holen, sagte die Eule, steht nur
so lang Wache für mich in diesem Loch, und
wenn etwa die Meisterin den Schornstein hin¬
auf rufen sollte, ob die Luft rein sei? so ant¬
wortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt:
Nein, es stinkt noch nicht in der Fechtschul'!
Spiegel stellte sich in die Nische und die Eule
flog still über die Stadt weg nach dem Wald. Bald
kam sie mit dem Schnepfengarn zurück und
fragte: Hat sie schon gerufen? "Noch nicht!"
sagte Spiegel.

Da spannten sie das Garn aus über den
Schornstein und setzten sich daneben still und
klug; die Luft war dunkel und es ging ein
leichtes Morgenwindchen, in welchem ein paar
Sternbilder flackerten. "Ihr sollt sehen, flüsterte
die Eule, wie geschickt die durch den Schornstein
heraufzusäuseln versteht, ohne sich die blanken
Schultern schwarz zu machen!" "Ich hab sie

Zeiten in ein Kloſter gegangen. So liegt das
Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf
es nur holen.« »Holt es geſchwind! ſagte
Spiegel, es wird gut ſein zu unſerm Zweck!«
»Ich will es holen, ſagte die Eule, ſteht nur
ſo lang Wache für mich in dieſem Loch, und
wenn etwa die Meiſterin den Schornſtein hin¬
auf rufen ſollte, ob die Luft rein ſei? ſo ant¬
wortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt:
Nein, es ſtinkt noch nicht in der Fechtſchul'!
Spiegel ſtellte ſich in die Niſche und die Eule
flog ſtill über die Stadt weg nach dem Wald. Bald
kam ſie mit dem Schnepfengarn zurück und
fragte: Hat ſie ſchon gerufen? »Noch nicht!«
ſagte Spiegel.

Da ſpannten ſie das Garn aus über den
Schornſtein und ſetzten ſich daneben ſtill und
klug; die Luft war dunkel und es ging ein
leichtes Morgenwindchen, in welchem ein paar
Sternbilder flackerten. »Ihr ſollt ſehen, flüſterte
die Eule, wie geſchickt die durch den Schornſtein
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[517/0529] Zeiten in ein Kloſter gegangen. So liegt das Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf es nur holen.« »Holt es geſchwind! ſagte Spiegel, es wird gut ſein zu unſerm Zweck!« »Ich will es holen, ſagte die Eule, ſteht nur ſo lang Wache für mich in dieſem Loch, und wenn etwa die Meiſterin den Schornſtein hin¬ auf rufen ſollte, ob die Luft rein ſei? ſo ant¬ wortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt: Nein, es ſtinkt noch nicht in der Fechtſchul'! Spiegel ſtellte ſich in die Niſche und die Eule flog ſtill über die Stadt weg nach dem Wald. Bald kam ſie mit dem Schnepfengarn zurück und fragte: Hat ſie ſchon gerufen? »Noch nicht!« ſagte Spiegel. Da ſpannten ſie das Garn aus über den Schornſtein und ſetzten ſich daneben ſtill und klug; die Luft war dunkel und es ging ein leichtes Morgenwindchen, in welchem ein paar Sternbilder flackerten. »Ihr ſollt ſehen, flüſterte die Eule, wie geſchickt die durch den Schornſtein heraufzuſäuſeln verſteht, ohne ſich die blanken Schultern ſchwarz zu machen!« »Ich hab ſie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/529>, abgerufen am 30.04.2024.