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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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gesehen werden konnte, als von den Vögeln des
Himmels und den Katzen auf den Dächern, weil
es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen
Brandmauern ohne Fenster hinein gebaut war,
wo nirgends ein menschliches Gesicht sich sehen
ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zer¬
rissene Unterröcke, Körbe und Kräutersäcke, auf
dem Dache wuchsen ordentliche Eibenbäumchen
und Dornsträucher, und ein großer rußiger Schorn¬
stein ragte unheimlich in die Luft. Aus diesem
Schornstein aber fuhr in der dunklen Nacht
nicht selten eine Hexe auf ihrem Besen in die
Höhe, jung und schön und splitternackt, wie
Gott die Weiber geschaffen und der Teufel sie
gern sieht. Wenn sie aus dem Schornstein fuhr,
so schnupperte sie mit dem feinsten Näschen und
mit lächelnden Kirschenlippen in der frischen Nacht¬
luft und fuhr in dem weißen Scheine ihres Lei¬
bes dahin, indeß ihr langes rabenschwarzes Haar
wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In
einem Loch am Schornstein saß ein alter Eulen¬
vogel und zu diesem begab sich jetzt der befreite
Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er un¬
terwegs gefangen.

geſehen werden konnte, als von den Vögeln des
Himmels und den Katzen auf den Dächern, weil
es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen
Brandmauern ohne Fenſter hinein gebaut war,
wo nirgends ein menſchliches Geſicht ſich ſehen
ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zer¬
riſſene Unterröcke, Körbe und Kräuterſäcke, auf
dem Dache wuchſen ordentliche Eibenbäumchen
und Dornſträucher, und ein großer rußiger Schorn¬
ſtein ragte unheimlich in die Luft. Aus dieſem
Schornſtein aber fuhr in der dunklen Nacht
nicht ſelten eine Hexe auf ihrem Beſen in die
Höhe, jung und ſchön und ſplitternackt, wie
Gott die Weiber geſchaffen und der Teufel ſie
gern ſieht. Wenn ſie aus dem Schornſtein fuhr,
ſo ſchnupperte ſie mit dem feinſten Näschen und
mit lächelnden Kirſchenlippen in der friſchen Nacht¬
luft und fuhr in dem weißen Scheine ihres Lei¬
bes dahin, indeß ihr langes rabenſchwarzes Haar
wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In
einem Loch am Schornſtein ſaß ein alter Eulen¬
vogel und zu dieſem begab ſich jetzt der befreite
Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er un¬
terwegs gefangen.

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[511/0523] geſehen werden konnte, als von den Vögeln des Himmels und den Katzen auf den Dächern, weil es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen Brandmauern ohne Fenſter hinein gebaut war, wo nirgends ein menſchliches Geſicht ſich ſehen ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zer¬ riſſene Unterröcke, Körbe und Kräuterſäcke, auf dem Dache wuchſen ordentliche Eibenbäumchen und Dornſträucher, und ein großer rußiger Schorn¬ ſtein ragte unheimlich in die Luft. Aus dieſem Schornſtein aber fuhr in der dunklen Nacht nicht ſelten eine Hexe auf ihrem Beſen in die Höhe, jung und ſchön und ſplitternackt, wie Gott die Weiber geſchaffen und der Teufel ſie gern ſieht. Wenn ſie aus dem Schornſtein fuhr, ſo ſchnupperte ſie mit dem feinſten Näschen und mit lächelnden Kirſchenlippen in der friſchen Nacht¬ luft und fuhr in dem weißen Scheine ihres Lei¬ bes dahin, indeß ihr langes rabenſchwarzes Haar wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In einem Loch am Schornſtein ſaß ein alter Eulen¬ vogel und zu dieſem begab ſich jetzt der befreite Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er un¬ terwegs gefangen.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/523>, abgerufen am 30.04.2024.