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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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wegen ihrer strengen Frömmigkeit und Eingezo¬
genheit in großem Rufe und besonders bei der
Geistlichkeit in hohem Ansehen, aber selbst die
Pfaffen verkehrten lieber schriftlich mit ihr, als
mündlich, und wenn sie beichtete, so schoß der
Pfarrer jedesmal so schweißtriefend aus dem
Beichtstuhl heraus, als ob er aus einem Back¬
ofen käme. So lebte die fromme Beghine, die
keinen Spaß verstand, in tiefem Frieden und
blieb ungeschoren. Sie machte sich auch mit
Niemand zu schaffen und ließ die Leute gehen,
vorausgesetzt, daß sie ihr aus dem Wege gin¬
gen; nur auf ihren Nachbar Pineiß schien sie
einen besondern Haß geworfen zu haben; denn
so oft er sich an seinem Fenster blicken ließ,
warf sie ihm einen bösen Blick hinüber und zog
augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und
Pineiß fürchtete sie wie das Feuer, und wagte
nur zuhinterst in seinem Hause, wenn Alles gut
verschlossen war, etwa einen Witz über sie zu
machen. So weiß und hell aber das Haus der
Beghine nach der Straße zu aussah, so schwarz
und räucherig, unheimlich und seltsam sah es
von hinten aus, wo es jedoch fast gar nicht

wegen ihrer ſtrengen Frömmigkeit und Eingezo¬
genheit in großem Rufe und beſonders bei der
Geiſtlichkeit in hohem Anſehen, aber ſelbſt die
Pfaffen verkehrten lieber ſchriftlich mit ihr, als
mündlich, und wenn ſie beichtete, ſo ſchoß der
Pfarrer jedesmal ſo ſchweißtriefend aus dem
Beichtſtuhl heraus, als ob er aus einem Back¬
ofen käme. So lebte die fromme Beghine, die
keinen Spaß verſtand, in tiefem Frieden und
blieb ungeſchoren. Sie machte ſich auch mit
Niemand zu ſchaffen und ließ die Leute gehen,
vorausgeſetzt, daß ſie ihr aus dem Wege gin¬
gen; nur auf ihren Nachbar Pineiß ſchien ſie
einen beſondern Haß geworfen zu haben; denn
ſo oft er ſich an ſeinem Fenſter blicken ließ,
warf ſie ihm einen böſen Blick hinüber und zog
augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und
Pineiß fürchtete ſie wie das Feuer, und wagte
nur zuhinterſt in ſeinem Hauſe, wenn Alles gut
verſchloſſen war, etwa einen Witz über ſie zu
machen. So weiß und hell aber das Haus der
Beghine nach der Straße zu ausſah, ſo ſchwarz
und räucherig, unheimlich und ſeltſam ſah es
von hinten aus, wo es jedoch faſt gar nicht

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[510/0522] wegen ihrer ſtrengen Frömmigkeit und Eingezo¬ genheit in großem Rufe und beſonders bei der Geiſtlichkeit in hohem Anſehen, aber ſelbſt die Pfaffen verkehrten lieber ſchriftlich mit ihr, als mündlich, und wenn ſie beichtete, ſo ſchoß der Pfarrer jedesmal ſo ſchweißtriefend aus dem Beichtſtuhl heraus, als ob er aus einem Back¬ ofen käme. So lebte die fromme Beghine, die keinen Spaß verſtand, in tiefem Frieden und blieb ungeſchoren. Sie machte ſich auch mit Niemand zu ſchaffen und ließ die Leute gehen, vorausgeſetzt, daß ſie ihr aus dem Wege gin¬ gen; nur auf ihren Nachbar Pineiß ſchien ſie einen beſondern Haß geworfen zu haben; denn ſo oft er ſich an ſeinem Fenſter blicken ließ, warf ſie ihm einen böſen Blick hinüber und zog augenblicklich ihre weißen Vorhänge vor, und Pineiß fürchtete ſie wie das Feuer, und wagte nur zuhinterſt in ſeinem Hauſe, wenn Alles gut verſchloſſen war, etwa einen Witz über ſie zu machen. So weiß und hell aber das Haus der Beghine nach der Straße zu ausſah, ſo ſchwarz und räucherig, unheimlich und ſeltſam ſah es von hinten aus, wo es jedoch faſt gar nicht

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/522>, abgerufen am 30.04.2024.