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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Als sie aber dieses herannahen sah, vergegen¬
wärtigte sie sich noch ein Mal die Zeit ihrer
fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch
einmal mit milderen ergebenen Gedanken erst die
süßen Erregungen und dann die bittern Leiden
jener Zeit, und sie weinte still sieben Tage und
Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings,
deren Genuß sie durch ihr Mißtrauen verloren
hatte, so daß ihre alten Augen noch kurz vor dem
Tode erblindeten. Dann bereute sie den Fluch, wel¬
chen sie über jenen Schatz ausgesprochen und
sagte zu mir, indem sie mich mit dieser wichtigen
Sache beauftragte: "Ich bestimme nun anders,
lieber Spiegel! und gebe Dir die Vollmacht,
daß Du meine Verordnung vollziehest. Sieh'
Dich um und suche, bis Du eine bildschöne,
aber unbemittelte Frauensperson findest, welcher
es ihrer Armuth wegen an Freiern gebricht!
Wenn sich dann ein verständiger, rechtlicher und
hübscher Mann finden sollte, der sein gutes
Auskommen hat, und die Jungfrau ungeachtet
ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit be¬
wegt, zur Frau begehrt, so soll dieser Mann
mit den stärksten Eiden sich verpflichten, derselben

Als ſie aber dieſes herannahen ſah, vergegen¬
wärtigte ſie ſich noch ein Mal die Zeit ihrer
fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch
einmal mit milderen ergebenen Gedanken erſt die
ſüßen Erregungen und dann die bittern Leiden
jener Zeit, und ſie weinte ſtill ſieben Tage und
Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings,
deren Genuß ſie durch ihr Mißtrauen verloren
hatte, ſo daß ihre alten Augen noch kurz vor dem
Tode erblindeten. Dann bereute ſie den Fluch, wel¬
chen ſie über jenen Schatz ausgeſprochen und
ſagte zu mir, indem ſie mich mit dieſer wichtigen
Sache beauftragte: »Ich beſtimme nun anders,
lieber Spiegel! und gebe Dir die Vollmacht,
daß Du meine Verordnung vollzieheſt. Sieh'
Dich um und ſuche, bis Du eine bildſchöne,
aber unbemittelte Frauensperſon findeſt, welcher
es ihrer Armuth wegen an Freiern gebricht!
Wenn ſich dann ein verſtändiger, rechtlicher und
hübſcher Mann finden ſollte, der ſein gutes
Auskommen hat, und die Jungfrau ungeachtet
ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit be¬
wegt, zur Frau begehrt, ſo ſoll dieſer Mann
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[499/0511] Als ſie aber dieſes herannahen ſah, vergegen¬ wärtigte ſie ſich noch ein Mal die Zeit ihrer fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch einmal mit milderen ergebenen Gedanken erſt die ſüßen Erregungen und dann die bittern Leiden jener Zeit, und ſie weinte ſtill ſieben Tage und Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings, deren Genuß ſie durch ihr Mißtrauen verloren hatte, ſo daß ihre alten Augen noch kurz vor dem Tode erblindeten. Dann bereute ſie den Fluch, wel¬ chen ſie über jenen Schatz ausgeſprochen und ſagte zu mir, indem ſie mich mit dieſer wichtigen Sache beauftragte: »Ich beſtimme nun anders, lieber Spiegel! und gebe Dir die Vollmacht, daß Du meine Verordnung vollzieheſt. Sieh' Dich um und ſuche, bis Du eine bildſchöne, aber unbemittelte Frauensperſon findeſt, welcher es ihrer Armuth wegen an Freiern gebricht! Wenn ſich dann ein verſtändiger, rechtlicher und hübſcher Mann finden ſollte, der ſein gutes Auskommen hat, und die Jungfrau ungeachtet ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit be¬ wegt, zur Frau begehrt, ſo ſoll dieſer Mann mit den ſtärkſten Eiden ſich verpflichten, derſelben

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/511>, abgerufen am 30.04.2024.