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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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und sobald er sich in etwas erholt und außer
Gefahr sah, schrieb er die Worte des Umgekom¬
menen getreu auf seine Schreibtafel, um sie
nicht zu vergessen, reis'te nach Hause, meldete
sich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr
die Botschaft so steif und kriegerisch vor, wie
er zu thun gewohnt war, wenn er sonst die
Mannschaft seines Fähnleins verlas; denn es
war ein Feldlieutenant. Das Fräulein aber
zerraufte sich die Haare, zerriß ihre Kleider
und begann so laut zu schreien und zu weinen,
daß man es die Straße auf und nieder hörte
und die Leute zusammenliefen. Sie schleppte wie
wahnsinnig die zehntausend Goldgulden herbei,
zerstreute sie auf dem Boden, warf sich der
Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden
Goldstücke. Ganz von Sinnen, suchte sie den
umherrollenden Schatz zusammen zu raffen und zu
umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin
zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf
dem Golde und wollte weder Speise noch Trank
zu sich nehmen; unaufhörlich liebkos'te und küßte
sie das kalte Metall, bis sie mitten in einer
Nacht plötzlich aufstand, den Schatz emsig hin

Keller, die Leute von Seldwyla. 32

und ſobald er ſich in etwas erholt und außer
Gefahr ſah, ſchrieb er die Worte des Umgekom¬
menen getreu auf ſeine Schreibtafel, um ſie
nicht zu vergeſſen, reiſ'te nach Hauſe, meldete
ſich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr
die Botſchaft ſo ſteif und kriegeriſch vor, wie
er zu thun gewohnt war, wenn er ſonſt die
Mannſchaft ſeines Fähnleins verlas; denn es
war ein Feldlieutenant. Das Fräulein aber
zerraufte ſich die Haare, zerriß ihre Kleider
und begann ſo laut zu ſchreien und zu weinen,
daß man es die Straße auf und nieder hörte
und die Leute zuſammenliefen. Sie ſchleppte wie
wahnſinnig die zehntauſend Goldgulden herbei,
zerſtreute ſie auf dem Boden, warf ſich der
Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden
Goldſtücke. Ganz von Sinnen, ſuchte ſie den
umherrollenden Schatz zuſammen zu raffen und zu
umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin
zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf
dem Golde und wollte weder Speiſe noch Trank
zu ſich nehmen; unaufhörlich liebkoſ'te und küßte
ſie das kalte Metall, bis ſie mitten in einer
Nacht plötzlich aufſtand, den Schatz emſig hin

Keller, die Leute von Seldwyla. 32
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[497/0509] und ſobald er ſich in etwas erholt und außer Gefahr ſah, ſchrieb er die Worte des Umgekom¬ menen getreu auf ſeine Schreibtafel, um ſie nicht zu vergeſſen, reiſ'te nach Hauſe, meldete ſich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr die Botſchaft ſo ſteif und kriegeriſch vor, wie er zu thun gewohnt war, wenn er ſonſt die Mannſchaft ſeines Fähnleins verlas; denn es war ein Feldlieutenant. Das Fräulein aber zerraufte ſich die Haare, zerriß ihre Kleider und begann ſo laut zu ſchreien und zu weinen, daß man es die Straße auf und nieder hörte und die Leute zuſammenliefen. Sie ſchleppte wie wahnſinnig die zehntauſend Goldgulden herbei, zerſtreute ſie auf dem Boden, warf ſich der Länge nach darauf hin und küßte die glänzenden Goldſtücke. Ganz von Sinnen, ſuchte ſie den umherrollenden Schatz zuſammen zu raffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin zugegen wäre. Sie lag Tag und Nacht auf dem Golde und wollte weder Speiſe noch Trank zu ſich nehmen; unaufhörlich liebkoſ'te und küßte ſie das kalte Metall, bis ſie mitten in einer Nacht plötzlich aufſtand, den Schatz emſig hin Keller, die Leute von Seldwyla. 32

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/509>, abgerufen am 30.04.2024.