Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Pfötchen über die Nase, als ob gar nichts
geschehen wäre.

Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬
lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen
Spiegel eben in der Blüthe seiner Jahre stand,
starb die Herrin unversehens an Altersschwäche
und ließ das schöne Kätzchen herrenlos und ver¬
wais't zurück. Es war das erste Unglück, wel¬
ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen,
welche so schneidend den bangen Zweifel an der
wirklichen und rechtmäßigen Ursache eines großen
Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche
bis auf die Straße und strich den ganzen übri¬
gen Tag rathlos im Hause und rings um das¬
selbe her. Doch seine gute Natur, seine Ver¬
nunft und Philosophie geboten ihm bald, sich
zu fassen, das Unabänderliche zu tragen und
seine dankbare Anhänglichkeit an das Haus seiner
todten Gebieterin dadurch zu beweisen, daß er
ihren lachenden Erben seine Dienste anbot und
sich bereit machte, denselben mit Rath und That
beizustehen, die Mäuse ferner im Zaume zu
halten und überdies ihnen manche gute Mit¬
theilung zu machen, welche die Thörichten nicht

Pfötchen über die Naſe, als ob gar nichts
geſchehen wäre.

Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬
lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen
Spiegel eben in der Blüthe ſeiner Jahre ſtand,
ſtarb die Herrin unverſehens an Altersſchwäche
und ließ das ſchöne Kätzchen herrenlos und ver¬
waiſ’t zurück. Es war das erſte Unglück, wel¬
ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen,
welche ſo ſchneidend den bangen Zweifel an der
wirklichen und rechtmäßigen Urſache eines großen
Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche
bis auf die Straße und ſtrich den ganzen übri¬
gen Tag rathlos im Hauſe und rings um das¬
ſelbe her. Doch ſeine gute Natur, ſeine Ver¬
nunft und Philoſophie geboten ihm bald, ſich
zu faſſen, das Unabänderliche zu tragen und
ſeine dankbare Anhänglichkeit an das Haus ſeiner
todten Gebieterin dadurch zu beweiſen, daß er
ihren lachenden Erben ſeine Dienſte anbot und
ſich bereit machte, denſelben mit Rath und That
beizuſtehen, die Mäuſe ferner im Zaume zu
halten und überdies ihnen manche gute Mit¬
theilung zu machen, welche die Thörichten nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0463" n="451"/>
Pfötchen über die Na&#x017F;e, als ob gar nichts<lb/>
ge&#x017F;chehen wäre.</p><lb/>
          <p>Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬<lb/>
lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen<lb/>
Spiegel eben in der Blüthe &#x017F;einer Jahre &#x017F;tand,<lb/>
&#x017F;tarb die Herrin unver&#x017F;ehens an Alters&#x017F;chwäche<lb/>
und ließ das &#x017F;chöne Kätzchen herrenlos und ver¬<lb/>
wai&#x017F;&#x2019;t zurück. Es war das er&#x017F;te Unglück, wel¬<lb/>
ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen,<lb/>
welche &#x017F;o &#x017F;chneidend den bangen Zweifel an der<lb/>
wirklichen und rechtmäßigen Ur&#x017F;ache eines großen<lb/>
Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche<lb/>
bis auf die Straße und &#x017F;trich den ganzen übri¬<lb/>
gen Tag rathlos im Hau&#x017F;e und rings um das¬<lb/>
&#x017F;elbe her. Doch &#x017F;eine gute Natur, &#x017F;eine Ver¬<lb/>
nunft und Philo&#x017F;ophie geboten ihm bald, &#x017F;ich<lb/>
zu fa&#x017F;&#x017F;en, das Unabänderliche zu tragen und<lb/>
&#x017F;eine dankbare Anhänglichkeit an das Haus &#x017F;einer<lb/>
todten Gebieterin dadurch zu bewei&#x017F;en, daß er<lb/>
ihren lachenden Erben &#x017F;eine Dien&#x017F;te anbot und<lb/>
&#x017F;ich bereit machte, den&#x017F;elben mit Rath und That<lb/>
beizu&#x017F;tehen, die Mäu&#x017F;e ferner im Zaume zu<lb/>
halten und überdies ihnen manche gute Mit¬<lb/>
theilung zu machen, welche die Thörichten nicht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[451/0463] Pfötchen über die Naſe, als ob gar nichts geſchehen wäre. Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötz¬ lich ein trauriges Ende. Als das Kätzchen Spiegel eben in der Blüthe ſeiner Jahre ſtand, ſtarb die Herrin unverſehens an Altersſchwäche und ließ das ſchöne Kätzchen herrenlos und ver¬ waiſ’t zurück. Es war das erſte Unglück, wel¬ ches ihm widerfuhr, und mit jenen Klagetönen, welche ſo ſchneidend den bangen Zweifel an der wirklichen und rechtmäßigen Urſache eines großen Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche bis auf die Straße und ſtrich den ganzen übri¬ gen Tag rathlos im Hauſe und rings um das¬ ſelbe her. Doch ſeine gute Natur, ſeine Ver¬ nunft und Philoſophie geboten ihm bald, ſich zu faſſen, das Unabänderliche zu tragen und ſeine dankbare Anhänglichkeit an das Haus ſeiner todten Gebieterin dadurch zu beweiſen, daß er ihren lachenden Erben ſeine Dienſte anbot und ſich bereit machte, denſelben mit Rath und That beizuſtehen, die Mäuſe ferner im Zaume zu halten und überdies ihnen manche gute Mit¬ theilung zu machen, welche die Thörichten nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/463
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/463>, abgerufen am 21.05.2024.