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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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verschmäht hätten, wenn sie eben nicht unver¬
nünftige Menschen gewesen wären. Aber diese Leute
ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, sondern
warfen ihm die Pantoffeln und das artige Fu߬
schemelchen der Seligen an den Kopf, so oft er
sich blicken ließ, zankten sich acht Tage lang
unter einander, begannen endlich einen Prozeß
und schlossen das Haus bis auf Weiteres zu,
so daß nun gar Niemand darin wohnte.

Da saß nun der arme Spiegel traurig und
verlassen auf der steinernen Stufe vor der Haus¬
thüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ.
Des Nachts begab er sich wohl auf Umwegen
unter das Dach des Hauses, und im Anfang
hielt er sich einen großen Theil des Tages dort
verborgen und suchte seinen Kummer zu ver¬
schlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an
das Licht und nöthigte ihn, an der warmen
Sonne und unter den Leuten zu erscheinen, um
bei der Hand zu sein und zu gewärtigen, wo
sich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zei¬
gen möchte. Je seltener dies geschah, desto auf¬
merksamer wurde der gute Spiegel, und alle
seine moralischen Eigenschaften gingen in dieser

verſchmäht hätten, wenn ſie eben nicht unver¬
nünftige Menſchen geweſen wären. Aber dieſe Leute
ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, ſondern
warfen ihm die Pantoffeln und das artige Fu߬
ſchemelchen der Seligen an den Kopf, ſo oft er
ſich blicken ließ, zankten ſich acht Tage lang
unter einander, begannen endlich einen Prozeß
und ſchloſſen das Haus bis auf Weiteres zu,
ſo daß nun gar Niemand darin wohnte.

Da ſaß nun der arme Spiegel traurig und
verlaſſen auf der ſteinernen Stufe vor der Haus¬
thüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ.
Des Nachts begab er ſich wohl auf Umwegen
unter das Dach des Hauſes, und im Anfang
hielt er ſich einen großen Theil des Tages dort
verborgen und ſuchte ſeinen Kummer zu ver¬
ſchlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an
das Licht und nöthigte ihn, an der warmen
Sonne und unter den Leuten zu erſcheinen, um
bei der Hand zu ſein und zu gewärtigen, wo
ſich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zei¬
gen möchte. Je ſeltener dies geſchah, deſto auf¬
merkſamer wurde der gute Spiegel, und alle
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[452/0464] verſchmäht hätten, wenn ſie eben nicht unver¬ nünftige Menſchen geweſen wären. Aber dieſe Leute ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, ſondern warfen ihm die Pantoffeln und das artige Fu߬ ſchemelchen der Seligen an den Kopf, ſo oft er ſich blicken ließ, zankten ſich acht Tage lang unter einander, begannen endlich einen Prozeß und ſchloſſen das Haus bis auf Weiteres zu, ſo daß nun gar Niemand darin wohnte. Da ſaß nun der arme Spiegel traurig und verlaſſen auf der ſteinernen Stufe vor der Haus¬ thüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ. Des Nachts begab er ſich wohl auf Umwegen unter das Dach des Hauſes, und im Anfang hielt er ſich einen großen Theil des Tages dort verborgen und ſuchte ſeinen Kummer zu ver¬ ſchlafen; doch der Hunger trieb ihn bald an das Licht und nöthigte ihn, an der warmen Sonne und unter den Leuten zu erſcheinen, um bei der Hand zu ſein und zu gewärtigen, wo ſich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zei¬ gen möchte. Je ſeltener dies geſchah, deſto auf¬ merkſamer wurde der gute Spiegel, und alle ſeine moraliſchen Eigenſchaften gingen in dieſer

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/464>, abgerufen am 22.11.2024.