Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

der Welt zu überlassen. Nur jeden Frühling
und Herbst einmal wurde dies ruhige Leben eine
Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen
blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬
sommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann
ging Spiegel seine eigenen Wege, streifte in
verliebter Begeisterung über die fernsten Dächer
und sang die allerschönsten Lieder. Als ein
rechter Don Juan bestand er bei Tag und Nacht
die bedenklichsten Abenteuer, und wenn er sich
zur Seltenheit einmal im Hause sehen ließ, so
erschien er mit einem so verwegenen, burschikosen,
ja liederlichen und zerzaus'ten Aussehen, daß die
stille Person, seine Gebieterin, fast unwillig
ausrief: "Aber Spiegel! Schämst Du Dich
denn nicht, ein solches Leben zu führen?" Wer
sich aber nicht schämte, war Spiegel; als ein
Mann von Grundsätzen, der wohl wußte, was
er sich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben
durfte, beschäftigte er sich ganz ruhig damit, die
Glätte seines Pelzes und die unschuldige Mun¬
terkeit seines Aussehens wieder herzustellen, und
er fuhr sich so unbefangen mit dem feuchten

der Welt zu überlaſſen. Nur jeden Frühling
und Herbſt einmal wurde dies ruhige Leben eine
Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen
blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬
ſommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann
ging Spiegel ſeine eigenen Wege, ſtreifte in
verliebter Begeiſterung über die fernſten Dächer
und ſang die allerſchönſten Lieder. Als ein
rechter Don Juan beſtand er bei Tag und Nacht
die bedenklichſten Abenteuer, und wenn er ſich
zur Seltenheit einmal im Hauſe ſehen ließ, ſo
erſchien er mit einem ſo verwegenen, burſchikoſen,
ja liederlichen und zerzauſ'ten Ausſehen, daß die
ſtille Perſon, ſeine Gebieterin, faſt unwillig
ausrief: »Aber Spiegel! Schämſt Du Dich
denn nicht, ein ſolches Leben zu führen?« Wer
ſich aber nicht ſchämte, war Spiegel; als ein
Mann von Grundſätzen, der wohl wußte, was
er ſich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben
durfte, beſchäftigte er ſich ganz ruhig damit, die
Glätte ſeines Pelzes und die unſchuldige Mun¬
terkeit ſeines Ausſehens wieder herzuſtellen, und
er fuhr ſich ſo unbefangen mit dem feuchten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0462" n="450"/>
der Welt zu überla&#x017F;&#x017F;en. Nur jeden Frühling<lb/>
und Herb&#x017F;t einmal wurde dies ruhige Leben eine<lb/>
Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen<lb/>
blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬<lb/>
&#x017F;ommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann<lb/>
ging Spiegel &#x017F;eine eigenen Wege, &#x017F;treifte in<lb/>
verliebter Begei&#x017F;terung über die fern&#x017F;ten Dächer<lb/>
und &#x017F;ang die aller&#x017F;chön&#x017F;ten Lieder. Als ein<lb/>
rechter Don Juan be&#x017F;tand er bei Tag und Nacht<lb/>
die bedenklich&#x017F;ten Abenteuer, und wenn er &#x017F;ich<lb/>
zur Seltenheit einmal im Hau&#x017F;e &#x017F;ehen ließ, &#x017F;o<lb/>
er&#x017F;chien er mit einem &#x017F;o verwegenen, bur&#x017F;chiko&#x017F;en,<lb/>
ja liederlichen und zerzau&#x017F;'ten Aus&#x017F;ehen, daß die<lb/>
&#x017F;tille Per&#x017F;on, &#x017F;eine Gebieterin, fa&#x017F;t unwillig<lb/>
ausrief: »Aber Spiegel! Schäm&#x017F;t Du Dich<lb/>
denn nicht, ein &#x017F;olches Leben zu führen?« Wer<lb/>
&#x017F;ich aber nicht &#x017F;chämte, war Spiegel; als ein<lb/>
Mann von Grund&#x017F;ätzen, der wohl wußte, was<lb/>
er &#x017F;ich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben<lb/>
durfte, be&#x017F;chäftigte er &#x017F;ich ganz ruhig damit, die<lb/>
Glätte &#x017F;eines Pelzes und die un&#x017F;chuldige Mun¬<lb/>
terkeit &#x017F;eines Aus&#x017F;ehens wieder herzu&#x017F;tellen, und<lb/>
er fuhr &#x017F;ich &#x017F;o unbefangen mit dem feuchten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[450/0462] der Welt zu überlaſſen. Nur jeden Frühling und Herbſt einmal wurde dies ruhige Leben eine Woche lang unterbrochen, wenn die Veilchen blühten oder die milde Wärme des Alteweiber¬ ſommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann ging Spiegel ſeine eigenen Wege, ſtreifte in verliebter Begeiſterung über die fernſten Dächer und ſang die allerſchönſten Lieder. Als ein rechter Don Juan beſtand er bei Tag und Nacht die bedenklichſten Abenteuer, und wenn er ſich zur Seltenheit einmal im Hauſe ſehen ließ, ſo erſchien er mit einem ſo verwegenen, burſchikoſen, ja liederlichen und zerzauſ'ten Ausſehen, daß die ſtille Perſon, ſeine Gebieterin, faſt unwillig ausrief: »Aber Spiegel! Schämſt Du Dich denn nicht, ein ſolches Leben zu führen?« Wer ſich aber nicht ſchämte, war Spiegel; als ein Mann von Grundſätzen, der wohl wußte, was er ſich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben durfte, beſchäftigte er ſich ganz ruhig damit, die Glätte ſeines Pelzes und die unſchuldige Mun¬ terkeit ſeines Ausſehens wieder herzuſtellen, und er fuhr ſich ſo unbefangen mit dem feuchten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/462
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/462>, abgerufen am 21.05.2024.