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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Gewissen ist das beste Lebenselixir, alle Thiere
lieben mich und laufen mir nach, weil sie mein
gutes Gewissen wittern, denn bei einem unge¬
rechten Menschen wollen sie nicht bleiben. Ein
Pudelhund ist mir einst drei Tage lang nachge¬
folgt, als ich aus der Stadt Ulm verreis'te, und
ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in
Gewahrsam geben, da ich als ein demüthiger
Handwerksgesell kein solches Thier ernähren konnte,
und als ich durch den Böhmerwald reis'te, sind
die Hirsche und Rehe auf zwanzig Schritt noch
stehen geblieben und haben sich nicht vor mir
gefürchtet. Es ist wunderbar, wie selbst die
wilden Thiere sich bei den Menschen auskennen
und wissen, welche guten Herzens sind!"

"Ja, das muß wahr sein!" rief der Schwabe,
"seht ihr nicht, wie dieser Fink schon die ganze
Zeit da vor mir herumfliegt und sich mir zu
nähern sucht? Und jenes Eichhörnchen auf der
Tanne sieht sich immerfort nach mir um, und
hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem
Beine und will sich durchaus nicht vertreiben
lassen! Dem muß es gewiß recht wohl sein bei
mir, dem lieben guten Thierchen!"

Gewiſſen iſt das beſte Lebenselixir, alle Thiere
lieben mich und laufen mir nach, weil ſie mein
gutes Gewiſſen wittern, denn bei einem unge¬
rechten Menſchen wollen ſie nicht bleiben. Ein
Pudelhund iſt mir einſt drei Tage lang nachge¬
folgt, als ich aus der Stadt Ulm verreiſ'te, und
ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in
Gewahrſam geben, da ich als ein demüthiger
Handwerksgeſell kein ſolches Thier ernähren konnte,
und als ich durch den Böhmerwald reiſ'te, ſind
die Hirſche und Rehe auf zwanzig Schritt noch
ſtehen geblieben und haben ſich nicht vor mir
gefürchtet. Es iſt wunderbar, wie ſelbſt die
wilden Thiere ſich bei den Menſchen auskennen
und wiſſen, welche guten Herzens ſind!«

»Ja, das muß wahr ſein!« rief der Schwabe,
»ſeht ihr nicht, wie dieſer Fink ſchon die ganze
Zeit da vor mir herumfliegt und ſich mir zu
nähern ſucht? Und jenes Eichhörnchen auf der
Tanne ſieht ſich immerfort nach mir um, und
hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem
Beine und will ſich durchaus nicht vertreiben
laſſen! Dem muß es gewiß recht wohl ſein bei
mir, dem lieben guten Thierchen!«

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[425/0437] Gewiſſen iſt das beſte Lebenselixir, alle Thiere lieben mich und laufen mir nach, weil ſie mein gutes Gewiſſen wittern, denn bei einem unge¬ rechten Menſchen wollen ſie nicht bleiben. Ein Pudelhund iſt mir einſt drei Tage lang nachge¬ folgt, als ich aus der Stadt Ulm verreiſ'te, und ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in Gewahrſam geben, da ich als ein demüthiger Handwerksgeſell kein ſolches Thier ernähren konnte, und als ich durch den Böhmerwald reiſ'te, ſind die Hirſche und Rehe auf zwanzig Schritt noch ſtehen geblieben und haben ſich nicht vor mir gefürchtet. Es iſt wunderbar, wie ſelbſt die wilden Thiere ſich bei den Menſchen auskennen und wiſſen, welche guten Herzens ſind!« »Ja, das muß wahr ſein!« rief der Schwabe, »ſeht ihr nicht, wie dieſer Fink ſchon die ganze Zeit da vor mir herumfliegt und ſich mir zu nähern ſucht? Und jenes Eichhörnchen auf der Tanne ſieht ſich immerfort nach mir um, und hier kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem Beine und will ſich durchaus nicht vertreiben laſſen! Dem muß es gewiß recht wohl ſein bei mir, dem lieben guten Thierchen!«

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 425. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/437>, abgerufen am 24.11.2024.