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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Da war eine beschädigte Stelle in dem Bewurf,
welche wie ein Land aussah mit Seen und Städten,
und ein Häufchen von groben Sandkörnern stellte
eine glückselige Inselgruppe vor; weiterhin er¬
streckte sich eine lange Schweinsborste, welche aus
dem Pinsel gefallen und in der blauen Tünche
stecken geblieben war; denn Jobst hatte im letzten
Herbst einmal ein kleines Restchen solcher Tünche
gefunden und damit es nicht umkommen sollte,
eine Viertelswandseite damit angestrichen, so weit
es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle
bemalt, wo er zunächst im Bette lag. Jenseits
der Schweinsborste aber ragte eine ganz geringe
Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, wel¬
ches einen zarten Schlagschatten über die Borste
weg nach den glückseligen Inseln hinüber warf.
Über dies Gebirge hatte er schon den ganzen
Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob
es früher nicht dagewesen wäre. Wie er nun
mit seinem traurigen, duselnden Auge dasselbe
suchte und plötzlich vermißte, traute er seinen
Sinnen kaum, als er statt desselben einen kleinen
kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen sah,
wie der winzige blaue Berg nicht weit davon

Da war eine beſchädigte Stelle in dem Bewurf,
welche wie ein Land ausſah mit Seen und Städten,
und ein Häufchen von groben Sandkörnern ſtellte
eine glückſelige Inſelgruppe vor; weiterhin er¬
ſtreckte ſich eine lange Schweinsborſte, welche aus
dem Pinſel gefallen und in der blauen Tünche
ſtecken geblieben war; denn Jobſt hatte im letzten
Herbſt einmal ein kleines Reſtchen ſolcher Tünche
gefunden und damit es nicht umkommen ſollte,
eine Viertelswandſeite damit angeſtrichen, ſo weit
es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle
bemalt, wo er zunächſt im Bette lag. Jenſeits
der Schweinsborſte aber ragte eine ganz geringe
Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, wel¬
ches einen zarten Schlagſchatten über die Borſte
weg nach den glückſeligen Inſeln hinüber warf.
Über dies Gebirge hatte er ſchon den ganzen
Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob
es früher nicht dageweſen wäre. Wie er nun
mit ſeinem traurigen, duſelnden Auge daſſelbe
ſuchte und plötzlich vermißte, traute er ſeinen
Sinnen kaum, als er ſtatt deſſelben einen kleinen
kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen ſah,
wie der winzige blaue Berg nicht weit davon

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[411/0423] Da war eine beſchädigte Stelle in dem Bewurf, welche wie ein Land ausſah mit Seen und Städten, und ein Häufchen von groben Sandkörnern ſtellte eine glückſelige Inſelgruppe vor; weiterhin er¬ ſtreckte ſich eine lange Schweinsborſte, welche aus dem Pinſel gefallen und in der blauen Tünche ſtecken geblieben war; denn Jobſt hatte im letzten Herbſt einmal ein kleines Reſtchen ſolcher Tünche gefunden und damit es nicht umkommen ſollte, eine Viertelswandſeite damit angeſtrichen, ſo weit es reichen wollte, und zwar hatte er die Stelle bemalt, wo er zunächſt im Bette lag. Jenſeits der Schweinsborſte aber ragte eine ganz geringe Erhöhung, wie ein kleines blaues Gebirge, wel¬ ches einen zarten Schlagſchatten über die Borſte weg nach den glückſeligen Inſeln hinüber warf. Über dies Gebirge hatte er ſchon den ganzen Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob es früher nicht dageweſen wäre. Wie er nun mit ſeinem traurigen, duſelnden Auge daſſelbe ſuchte und plötzlich vermißte, traute er ſeinen Sinnen kaum, als er ſtatt deſſelben einen kleinen kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen ſah, wie der winzige blaue Berg nicht weit davon

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/423>, abgerufen am 25.11.2024.