Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Sein Vater war des andern Tags wie zer¬
schlagen und wollte nicht aus dem Hause. Der
Handel und das ganze vieljährige Elend nahm
heute eine neue deutlichere Gestalt an und nahm
sich bequemlich Platz in der drückenden Luft der
Spelunke, also daß Mann und Frau matt und
scheu um das Gespenst herumschlichen, aus der
Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in
die Küche und aus dieser wieder sich in die
Stube schleppten, in welcher kein Gast sich sehen
ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und
begann den Tag über ein müdes, halbtodtes
Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei
sie zeitweise einschliefen, von unruhigen Tag¬
träumen geplagt, welche aus dem Gewissen ka¬
men und sie wieder weckten. Nur Sali sah
und hörte nichts davon, denn er dachte nur an
Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth,
nicht nur als ob er unsäglich reich wäre, son¬
dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬
lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun
so deutlich und bestimmt um das wußte, was
er gestern gesehen. Diese Wissenschaft war ihm
wie vom Himmel gefallen und er war in einer

Sein Vater war des andern Tags wie zer¬
ſchlagen und wollte nicht aus dem Hauſe. Der
Handel und das ganze vieljährige Elend nahm
heute eine neue deutlichere Geſtalt an und nahm
ſich bequemlich Platz in der drückenden Luft der
Spelunke, alſo daß Mann und Frau matt und
ſcheu um das Geſpenſt herumſchlichen, aus der
Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in
die Küche und aus dieſer wieder ſich in die
Stube ſchleppten, in welcher kein Gaſt ſich ſehen
ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und
begann den Tag über ein müdes, halbtodtes
Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei
ſie zeitweiſe einſchliefen, von unruhigen Tag¬
träumen geplagt, welche aus dem Gewiſſen ka¬
men und ſie wieder weckten. Nur Sali ſah
und hörte nichts davon, denn er dachte nur an
Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth,
nicht nur als ob er unſäglich reich wäre, ſon¬
dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬
lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun
ſo deutlich und beſtimmt um das wußte, was
er geſtern geſehen. Dieſe Wiſſenſchaft war ihm
wie vom Himmel gefallen und er war in einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0274" n="262"/>
        <p>Sein Vater war des andern Tags wie zer¬<lb/>
&#x017F;chlagen und wollte nicht aus dem Hau&#x017F;e. Der<lb/>
Handel und das ganze vieljährige Elend nahm<lb/>
heute eine neue deutlichere Ge&#x017F;talt an und nahm<lb/>
&#x017F;ich bequemlich Platz in der drückenden Luft der<lb/>
Spelunke, al&#x017F;o daß Mann und Frau matt und<lb/>
&#x017F;cheu um das Ge&#x017F;pen&#x017F;t herum&#x017F;chlichen, aus der<lb/>
Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in<lb/>
die Küche und aus die&#x017F;er wieder &#x017F;ich in die<lb/>
Stube &#x017F;chleppten, in welcher kein Ga&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;ehen<lb/>
ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und<lb/>
begann den Tag über ein müdes, halbtodtes<lb/>
Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei<lb/>
&#x017F;ie zeitwei&#x017F;e ein&#x017F;chliefen, von unruhigen Tag¬<lb/>
träumen geplagt, welche aus dem Gewi&#x017F;&#x017F;en ka¬<lb/>
men und &#x017F;ie wieder weckten. Nur Sali &#x017F;ah<lb/>
und hörte nichts davon, denn er dachte nur an<lb/>
Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth,<lb/>
nicht nur als ob er un&#x017F;äglich reich wäre, &#x017F;on¬<lb/>
dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬<lb/>
lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun<lb/>
&#x017F;o deutlich und be&#x017F;timmt um das wußte, was<lb/>
er ge&#x017F;tern ge&#x017F;ehen. Die&#x017F;e Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft war ihm<lb/>
wie vom Himmel gefallen und er war in einer<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0274] Sein Vater war des andern Tags wie zer¬ ſchlagen und wollte nicht aus dem Hauſe. Der Handel und das ganze vieljährige Elend nahm heute eine neue deutlichere Geſtalt an und nahm ſich bequemlich Platz in der drückenden Luft der Spelunke, alſo daß Mann und Frau matt und ſcheu um das Geſpenſt herumſchlichen, aus der Stube in die dunklen Kämmerchen, von da in die Küche und aus dieſer wieder ſich in die Stube ſchleppten, in welcher kein Gaſt ſich ſehen ließ. Zuletzt hockte jedes in einem Winkel und begann den Tag über ein müdes, halbtodtes Zanken und Vorhalten mit dem andern, wobei ſie zeitweiſe einſchliefen, von unruhigen Tag¬ träumen geplagt, welche aus dem Gewiſſen ka¬ men und ſie wieder weckten. Nur Sali ſah und hörte nichts davon, denn er dachte nur an Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth, nicht nur als ob er unſäglich reich wäre, ſon¬ dern auch was Rechts gelernt hätte und unend¬ lich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun ſo deutlich und beſtimmt um das wußte, was er geſtern geſehen. Dieſe Wiſſenſchaft war ihm wie vom Himmel gefallen und er war in einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/274
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/274>, abgerufen am 10.05.2024.