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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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mal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der sie
trennte, zu besteigen und sich gegenseitig von
demselben herunterzustoßen. Wenn sie auch sonst
keinen Verkehr mehr mit einander hatten, so
schien diese jährliche Ceremonie um so sorglicher
gewahrt zu werden, als sonst nirgends die Fel¬
der ihrer Väter zusammenstießen.

Indessen sollte der Acker doch endlich ver¬
kauft und der Erlös einstweilen gerichtlich auf¬
gehoben werden. Die Versteigerung fand an
Ort und Stelle statt, wo sich aber nur einige
Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und
Marti, da Niemand Lust hatte, das seltsame
Stückchen zu erstehen und zwischen den zwei
Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich diese zu
den besten Bauern des Dorfes gehörten und
nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drit¬
tel der Übrigen unter diesen Umständen auch
gethan haben würden, so sah man sie doch jetzt
stillschweigend darum an und Niemand wollte
zwischen ihnen eingeklemmt sein mit dem geschmä¬
lerten Waisenfelde. Die meisten Menschen sind
fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes
Unrecht zu verüben, wenn sie mit der Nase dar¬

mal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der ſie
trennte, zu beſteigen und ſich gegenſeitig von
demſelben herunterzuſtoßen. Wenn ſie auch ſonſt
keinen Verkehr mehr mit einander hatten, ſo
ſchien dieſe jährliche Ceremonie um ſo ſorglicher
gewahrt zu werden, als ſonſt nirgends die Fel¬
der ihrer Väter zuſammenſtießen.

Indeſſen ſollte der Acker doch endlich ver¬
kauft und der Erlös einſtweilen gerichtlich auf¬
gehoben werden. Die Verſteigerung fand an
Ort und Stelle ſtatt, wo ſich aber nur einige
Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und
Marti, da Niemand Luſt hatte, das ſeltſame
Stückchen zu erſtehen und zwiſchen den zwei
Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich dieſe zu
den beſten Bauern des Dorfes gehörten und
nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drit¬
tel der Übrigen unter dieſen Umſtänden auch
gethan haben würden, ſo ſah man ſie doch jetzt
ſtillſchweigend darum an und Niemand wollte
zwiſchen ihnen eingeklemmt ſein mit dem geſchmä¬
lerten Waiſenfelde. Die meiſten Menſchen ſind
fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes
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[226/0238] mal Gelegenheit, den wilden Steinkamm, der ſie trennte, zu beſteigen und ſich gegenſeitig von demſelben herunterzuſtoßen. Wenn ſie auch ſonſt keinen Verkehr mehr mit einander hatten, ſo ſchien dieſe jährliche Ceremonie um ſo ſorglicher gewahrt zu werden, als ſonſt nirgends die Fel¬ der ihrer Väter zuſammenſtießen. Indeſſen ſollte der Acker doch endlich ver¬ kauft und der Erlös einſtweilen gerichtlich auf¬ gehoben werden. Die Verſteigerung fand an Ort und Stelle ſtatt, wo ſich aber nur einige Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und Marti, da Niemand Luſt hatte, das ſeltſame Stückchen zu erſtehen und zwiſchen den zwei Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich dieſe zu den beſten Bauern des Dorfes gehörten und nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drit¬ tel der Übrigen unter dieſen Umſtänden auch gethan haben würden, ſo ſah man ſie doch jetzt ſtillſchweigend darum an und Niemand wollte zwiſchen ihnen eingeklemmt ſein mit dem geſchmä¬ lerten Waiſenfelde. Die meiſten Menſchen ſind fähig oder bereit, ein in den Lüften umgehendes Unrecht zu verüben, wenn ſie mit der Naſe dar¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/238>, abgerufen am 25.11.2024.