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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Es kam eine Ernte um die andere und jede
sah die Kinder größer und schöner und den
herrenlosen Acker schmäler zwischen seinen breit¬
gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen
wurde ihm hüben und drüben eine Furche abge¬
rissen, ohne daß ein Wort darüber gesprochen
wurde und ohne daß ein Menschenauge den Fre¬
vel zu sehen schien. Die Steine wurden immer
mehr zusammengedrängt und bildeten schon einen
ordentlichen Grat der ganzen Länge des Ackers
nach, und das wilde Gewächs darauf war schon
so hoch, daß die Kinder, obgleich sie gewachsen
waren, sich nicht mehr sehen konnten, wenn eines
dies- und das andere jenseits ging. Denn sie
gingen nun nicht mehr gemeinschaftlich auf das
Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali,
wie er genannt wurde, sich schon wacker auf
Seite der größeren Burschen und der Männer
hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein
feuriges Dirnchen war, mußte bereits unter der
Obhut seines Geschlechts gehen, sonst wäre es
von den andern als ein Bubenmädchen ausge¬
lacht worden. Dennoch nahmen sie während je¬
der Ernte, wenn alles auf den Äckern war, ein¬

Keller, die Leute von Seldwyla. 15

Es kam eine Ernte um die andere und jede
ſah die Kinder größer und ſchöner und den
herrenloſen Acker ſchmäler zwiſchen ſeinen breit¬
gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen
wurde ihm hüben und drüben eine Furche abge¬
riſſen, ohne daß ein Wort darüber geſprochen
wurde und ohne daß ein Menſchenauge den Fre¬
vel zu ſehen ſchien. Die Steine wurden immer
mehr zuſammengedrängt und bildeten ſchon einen
ordentlichen Grat der ganzen Länge des Ackers
nach, und das wilde Gewächs darauf war ſchon
ſo hoch, daß die Kinder, obgleich ſie gewachſen
waren, ſich nicht mehr ſehen konnten, wenn eines
dies- und das andere jenſeits ging. Denn ſie
gingen nun nicht mehr gemeinſchaftlich auf das
Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali,
wie er genannt wurde, ſich ſchon wacker auf
Seite der größeren Burſchen und der Männer
hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein
feuriges Dirnchen war, mußte bereits unter der
Obhut ſeines Geſchlechts gehen, ſonſt wäre es
von den andern als ein Bubenmädchen ausge¬
lacht worden. Dennoch nahmen ſie während je¬
der Ernte, wenn alles auf den Äckern war, ein¬

Keller, die Leute von Seldwyla. 15
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[225/0237] Es kam eine Ernte um die andere und jede ſah die Kinder größer und ſchöner und den herrenloſen Acker ſchmäler zwiſchen ſeinen breit¬ gewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen wurde ihm hüben und drüben eine Furche abge¬ riſſen, ohne daß ein Wort darüber geſprochen wurde und ohne daß ein Menſchenauge den Fre¬ vel zu ſehen ſchien. Die Steine wurden immer mehr zuſammengedrängt und bildeten ſchon einen ordentlichen Grat der ganzen Länge des Ackers nach, und das wilde Gewächs darauf war ſchon ſo hoch, daß die Kinder, obgleich ſie gewachſen waren, ſich nicht mehr ſehen konnten, wenn eines dies- und das andere jenſeits ging. Denn ſie gingen nun nicht mehr gemeinſchaftlich auf das Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali, wie er genannt wurde, ſich ſchon wacker auf Seite der größeren Burſchen und der Männer hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein feuriges Dirnchen war, mußte bereits unter der Obhut ſeines Geſchlechts gehen, ſonſt wäre es von den andern als ein Bubenmädchen ausge¬ lacht worden. Dennoch nahmen ſie während je¬ der Ernte, wenn alles auf den Äckern war, ein¬ Keller, die Leute von Seldwyla. 15

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/237>, abgerufen am 26.11.2024.