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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Außer diesen Geschmacksgründen aber war
sie aus einem Orte gebürtig, wo seit unvor¬
denklichen Zeiten jedermann freisinnig war und
der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit sich
als ein entschlossenes, thatkräftiges und sich gleich
bleibendes Bürgernest hervorgethan, so daß, wenn
es hieß: die von So und So haben dies gesagt
oder jenes gethan! sie gleich einen ganzen Land¬
strich mitnahmen und einen kräftigen Anstoß ga¬
ben. Wenn also Frau Amrain in den Fall kam,
ihre Meinung über einen Streit festzustellen, so
hörte sie nicht auf das, was die Seldwyler, son¬
dern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei¬
math sagten und richtete ihre Gedanken dorthin.

Alles das waren Gründe genug für Fritz,
ein guter Liberaler zu sein, ohne absonderliche
Studien gemacht zu haben. Was nun die nächste
Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und
die rechtlichen Handlungen frei sind und die Leute
sich das Wetter selbst machen, für einen politisch
Aufgeregten entsteht, nämlich die Gefahr ein
Müssiggänger und Schenkeläufer zu werden, so
war dieselbe zu Seldwyla allerdings noch grö¬
ßer, als an andern Schweizerorten, welche mit

Außer dieſen Geſchmacksgründen aber war
ſie aus einem Orte gebürtig, wo ſeit unvor¬
denklichen Zeiten jedermann freiſinnig war und
der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit ſich
als ein entſchloſſenes, thatkräftiges und ſich gleich
bleibendes Bürgerneſt hervorgethan, ſo daß, wenn
es hieß: die von So und So haben dies geſagt
oder jenes gethan! ſie gleich einen ganzen Land¬
ſtrich mitnahmen und einen kräftigen Anſtoß ga¬
ben. Wenn alſo Frau Amrain in den Fall kam,
ihre Meinung über einen Streit feſtzuſtellen, ſo
hörte ſie nicht auf das, was die Seldwyler, ſon¬
dern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei¬
math ſagten und richtete ihre Gedanken dorthin.

Alles das waren Gründe genug für Fritz,
ein guter Liberaler zu ſein, ohne abſonderliche
Studien gemacht zu haben. Was nun die nächſte
Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und
die rechtlichen Handlungen frei ſind und die Leute
ſich das Wetter ſelbſt machen, für einen politiſch
Aufgeregten entſteht, nämlich die Gefahr ein
Müſſiggänger und Schenkeläufer zu werden, ſo
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[157/0169] Außer dieſen Geſchmacksgründen aber war ſie aus einem Orte gebürtig, wo ſeit unvor¬ denklichen Zeiten jedermann freiſinnig war und der im Laufe der Zeit bei jeder Gelegenheit ſich als ein entſchloſſenes, thatkräftiges und ſich gleich bleibendes Bürgerneſt hervorgethan, ſo daß, wenn es hieß: die von So und So haben dies geſagt oder jenes gethan! ſie gleich einen ganzen Land¬ ſtrich mitnahmen und einen kräftigen Anſtoß ga¬ ben. Wenn alſo Frau Amrain in den Fall kam, ihre Meinung über einen Streit feſtzuſtellen, ſo hörte ſie nicht auf das, was die Seldwyler, ſon¬ dern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei¬ math ſagten und richtete ihre Gedanken dorthin. Alles das waren Gründe genug für Fritz, ein guter Liberaler zu ſein, ohne abſonderliche Studien gemacht zu haben. Was nun die nächſte Gefahr anbelangt, welche da, wo das Wort und die rechtlichen Handlungen frei ſind und die Leute ſich das Wetter ſelbſt machen, für einen politiſch Aufgeregten entſteht, nämlich die Gefahr ein Müſſiggänger und Schenkeläufer zu werden, ſo war dieſelbe zu Seldwyla allerdings noch grö¬ ßer, als an andern Schweizerorten, welche mit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/169>, abgerufen am 28.11.2024.