Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

stehen schien, oder sich mit etwas zu zieren,
wozu er das Zeug nicht hatte, so tadelte sie ihn
mit schneidenden harten Worten und versetzte
ihm selbst einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu
arg und widerlich war. Ebenso, wenn sie be¬
merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog,
um sich kleine Vortheile zu erwerben, strafte sie
ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬
gehen abgeläugnet hätte.

Diese ganze Erzieherei kostete indessen kaum
so viel Worte, als hier gebraucht wurden, um
sie zu schildern, und sie beruhte allerdings mehr
im Charakter der Frau Amrain, als in einem
vorbedachten oder gar angelesenen System. Daher
wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten,
die nicht ihren Charakter besitzen, nicht befolgt
werden können, während ein anderer Theil, wie
z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der
Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen
Leuten nicht kann angewendet werden. Denn
wo z. B. gar nichts zu essen ist, da wird dieses
natürlich jeden Augenblick zur nächsten Haupt¬
sache, und Kindern, unter solchen Umständen
erzogen, wird man schwer die Gelüstigkeit abge¬

ſtehen ſchien, oder ſich mit etwas zu zieren,
wozu er das Zeug nicht hatte, ſo tadelte ſie ihn
mit ſchneidenden harten Worten und verſetzte
ihm ſelbſt einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu
arg und widerlich war. Ebenſo, wenn ſie be¬
merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog,
um ſich kleine Vortheile zu erwerben, ſtrafte ſie
ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬
gehen abgeläugnet hätte.

Dieſe ganze Erzieherei koſtete indeſſen kaum
ſo viel Worte, als hier gebraucht wurden, um
ſie zu ſchildern, und ſie beruhte allerdings mehr
im Charakter der Frau Amrain, als in einem
vorbedachten oder gar angeleſenen Syſtem. Daher
wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten,
die nicht ihren Charakter beſitzen, nicht befolgt
werden können, während ein anderer Theil, wie
z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der
Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen
Leuten nicht kann angewendet werden. Denn
wo z. B. gar nichts zu eſſen iſt, da wird dieſes
natürlich jeden Augenblick zur nächſten Haupt¬
ſache, und Kindern, unter ſolchen Umſtänden
erzogen, wird man ſchwer die Gelüſtigkeit abge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0146" n="134"/>
&#x017F;tehen &#x017F;chien, oder &#x017F;ich mit etwas zu zieren,<lb/>
wozu er das Zeug nicht hatte, &#x017F;o tadelte &#x017F;ie ihn<lb/>
mit &#x017F;chneidenden harten Worten und ver&#x017F;etzte<lb/>
ihm &#x017F;elb&#x017F;t einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu<lb/>
arg und widerlich war. Eben&#x017F;o, wenn &#x017F;ie be¬<lb/>
merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog,<lb/>
um &#x017F;ich kleine Vortheile zu erwerben, &#x017F;trafte &#x017F;ie<lb/>
ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬<lb/>
gehen abgeläugnet hätte.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e ganze Erzieherei ko&#x017F;tete inde&#x017F;&#x017F;en kaum<lb/>
&#x017F;o viel Worte, als hier gebraucht wurden, um<lb/>
&#x017F;ie zu &#x017F;childern, und &#x017F;ie beruhte allerdings mehr<lb/>
im Charakter der Frau Amrain, als in einem<lb/>
vorbedachten oder gar angele&#x017F;enen Sy&#x017F;tem. Daher<lb/>
wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten,<lb/>
die nicht ihren Charakter be&#x017F;itzen, nicht befolgt<lb/>
werden können, während ein anderer Theil, wie<lb/>
z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der<lb/>
Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen<lb/>
Leuten nicht kann angewendet werden. Denn<lb/>
wo z. B. gar nichts zu e&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, da wird die&#x017F;es<lb/>
natürlich jeden Augenblick zur näch&#x017F;ten Haupt¬<lb/>
&#x017F;ache, und Kindern, unter &#x017F;olchen Um&#x017F;tänden<lb/>
erzogen, wird man &#x017F;chwer die Gelü&#x017F;tigkeit abge¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0146] ſtehen ſchien, oder ſich mit etwas zu zieren, wozu er das Zeug nicht hatte, ſo tadelte ſie ihn mit ſchneidenden harten Worten und verſetzte ihm ſelbſt einige Knüffe, wenn ihr die Sache zu arg und widerlich war. Ebenſo, wenn ſie be¬ merkte, daß er andere Kinder beim Spielen belog, um ſich kleine Vortheile zu erwerben, ſtrafte ſie ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Ver¬ gehen abgeläugnet hätte. Dieſe ganze Erzieherei koſtete indeſſen kaum ſo viel Worte, als hier gebraucht wurden, um ſie zu ſchildern, und ſie beruhte allerdings mehr im Charakter der Frau Amrain, als in einem vorbedachten oder gar angeleſenen Syſtem. Daher wird ein Theil ihres Verfahrens von Leuten, die nicht ihren Charakter beſitzen, nicht befolgt werden können, während ein anderer Theil, wie z. B. ihr Verhalten mit den Kleidern, mit der Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen Leuten nicht kann angewendet werden. Denn wo z. B. gar nichts zu eſſen iſt, da wird dieſes natürlich jeden Augenblick zur nächſten Haupt¬ ſache, und Kindern, unter ſolchen Umſtänden erzogen, wird man ſchwer die Gelüſtigkeit abge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/146
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/146>, abgerufen am 04.05.2024.