Handhabe, um ihr donnerndes: Du sollst nicht lügen! dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu schreien. Wenn Fritzchen eine solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel einfach, indem sie ihn groß ansah: "Was soll denn das heißen, Du Affe? Warum lügst Du solche Dummheiten? Glaubst Du die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei Du froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬ gleichen Späße!" Wenn er eine Nothlüge vor¬ brachte, um eine begangene Sünde zu vertuschen, zeigte sie ihm mit ernsten aber liebevollen Wor¬ ten, daß die Sache deswegen nicht ungeschehen sei und wußte ihm klar zu machen, daß er sich besser befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingestehe; aber sie bauete keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, sondern behandelte die Sache ganz abgesehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, so daß er das Zwecklose und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und zu stolz wurde dazu. Wenn er dagegen nur die leiseste Neigung verrieth, sich irgend Eigenschaften beizulegen, die er nicht besaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu
Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen Leute zum Narren halten zu können? Sei Du froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬ gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬ brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen, zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬ ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0145"n="133"/>
Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht<lb/>
lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie<lb/>
in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine<lb/>ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel<lb/>
einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll<lb/>
denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du<lb/>ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen<lb/>
Leute zum Narren halten zu können? Sei Du<lb/>
froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬<lb/>
gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬<lb/>
brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen,<lb/>
zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬<lb/>
ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen<lb/>ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich<lb/>
beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen<lb/>
begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete<lb/>
keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern<lb/>
behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob<lb/>
er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er<lb/>
das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens<lb/>
bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er<lb/>
dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich<lb/>
irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß,<lb/>
oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu<lb/></p></div></body></text></TEI>
[133/0145]
Handhabe, um ihr donnerndes: Du ſollſt nicht
lügen! dem kleinen erſtaunten Erfindungsgenie
in die Ohren zu ſchreien. Wenn Fritzchen eine
ſolche derbe Lüge vorbrachte, ſo ſagte Frau Regel
einfach, indem ſie ihn groß anſah: »Was ſoll
denn das heißen, Du Affe? Warum lügſt Du
ſolche Dummheiten? Glaubſt Du die großen
Leute zum Narren halten zu können? Sei Du
froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß der¬
gleichen Späße!« Wenn er eine Nothlüge vor¬
brachte, um eine begangene Sünde zu vertuſchen,
zeigte ſie ihm mit ernſten aber liebevollen Wor¬
ten, daß die Sache deswegen nicht ungeſchehen
ſei und wußte ihm klar zu machen, daß er ſich
beſſer befinde, wenn er offen und ehrlich einen
begangenen Fehler eingeſtehe; aber ſie bauete
keinen neuen Strafproceß auf die Lüge, ſondern
behandelte die Sache ganz abgeſehen davon, ob
er gelogen oder nicht gelogen habe, ſo daß er
das Zweckloſe und Kleinliche des Herauslügens
bald fühlte und zu ſtolz wurde dazu. Wenn er
dagegen nur die leiſeſte Neigung verrieth, ſich
irgend Eigenſchaften beizulegen, die er nicht beſaß,
oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/145>, abgerufen am 12.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.