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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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als ob sie selbst wüßten, wie schwierig es sei,
kein Dieb oder Betrüger zu werden! Was
unter hundert Fällen in neun und neunzig nur
die momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüste
des träumerisch wachsenden Kindes sind, ganz
ähnlich den Launen schwangerer Frauen, das
wird zum Gegenstande eines furchtbaren Straf¬
gerichtes gemacht und von nichts als Galgen
und Zuchthaus gesprochen. Als ob alle diese
lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht
von selbst durch die menschliche Selbstliebe, sogar
bloß durch die Eitelkeit, davor gesichert würden,
Diebe und Schelme sein zu wollen. Dagegen
wie milde und freundschaftlich werden da tausend
kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mi߬
gunst, der Eitelkeit, der Anmaßung, der mora¬
lischen Selbstsucht und Selbstgefälligkeit behandelt
und gehätschelt! Wie schwer merken die wackern
Erziehungsleute ein früh verlogenes und ver¬
blümtes inneres Wesen an einem Kinde, wäh¬
rend sie mit höllischem Zeter über ein anderes
herfahren, das aus Übermuth oder Verlegenheit
ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge gesagt hat.
Denn hier haben sie eine greifliche bequeme

als ob ſie ſelbſt wüßten, wie ſchwierig es ſei,
kein Dieb oder Betrüger zu werden! Was
unter hundert Fällen in neun und neunzig nur
die momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüſte
des träumeriſch wachſenden Kindes ſind, ganz
ähnlich den Launen ſchwangerer Frauen, das
wird zum Gegenſtande eines furchtbaren Straf¬
gerichtes gemacht und von nichts als Galgen
und Zuchthaus geſprochen. Als ob alle dieſe
lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht
von ſelbſt durch die menſchliche Selbſtliebe, ſogar
bloß durch die Eitelkeit, davor geſichert würden,
Diebe und Schelme ſein zu wollen. Dagegen
wie milde und freundſchaftlich werden da tauſend
kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mi߬
gunſt, der Eitelkeit, der Anmaßung, der mora¬
liſchen Selbſtſucht und Selbſtgefälligkeit behandelt
und gehätſchelt! Wie ſchwer merken die wackern
Erziehungsleute ein früh verlogenes und ver¬
blümtes inneres Weſen an einem Kinde, wäh¬
rend ſie mit hölliſchem Zeter über ein anderes
herfahren, das aus Übermuth oder Verlegenheit
ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge geſagt hat.
Denn hier haben ſie eine greifliche bequeme

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[132/0144] als ob ſie ſelbſt wüßten, wie ſchwierig es ſei, kein Dieb oder Betrüger zu werden! Was unter hundert Fällen in neun und neunzig nur die momentan unerklärlichen Einfälle und Gelüſte des träumeriſch wachſenden Kindes ſind, ganz ähnlich den Launen ſchwangerer Frauen, das wird zum Gegenſtande eines furchtbaren Straf¬ gerichtes gemacht und von nichts als Galgen und Zuchthaus geſprochen. Als ob alle dieſe lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht von ſelbſt durch die menſchliche Selbſtliebe, ſogar bloß durch die Eitelkeit, davor geſichert würden, Diebe und Schelme ſein zu wollen. Dagegen wie milde und freundſchaftlich werden da tauſend kleinere Züge und Zeichen des Neides, der Mi߬ gunſt, der Eitelkeit, der Anmaßung, der mora¬ liſchen Selbſtſucht und Selbſtgefälligkeit behandelt und gehätſchelt! Wie ſchwer merken die wackern Erziehungsleute ein früh verlogenes und ver¬ blümtes inneres Weſen an einem Kinde, wäh¬ rend ſie mit hölliſchem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Übermuth oder Verlegenheit ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge geſagt hat. Denn hier haben ſie eine greifliche bequeme

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/144>, abgerufen am 03.05.2024.