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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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oftmals aufmerksam und ernsthaft betrachtete und
darüber sann, ob dieselben auch werth seien,
daß sie das Haus für sie aufrecht halte, da sie
ja doch Seldwyler wären und bleiben würden.
Doch weil die Bursche einmal ihre Kinder
waren, so ließ die Eigenliebe und die Mut¬
terliebe sie immer wieder einen guten Muth
fassen, und sie traute sich zu, auch in dieser
Sache das Steuer am Ende anders zu lenken,
als es zu Seldwyl Mode war.

In solche Gedanken versunken saß sie einst
nach dem Nachtessen am Tische und hatte das
Geschäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor
sich liegen. Die Buben lagen im Bette und
schliefen in der Kammer, deren Thüre offen stand,
und sie hatte eben die drei schlafenden kleinen
Gesellen mit der Lampe in der Hand betrachtet
und besonders den kleinsten Kerl in's Auge ge¬
faßt, der ihr am wenigsten glich. Er war blond,
hatte ein keckes Stumpfnäschen, während sie eine
ernsthafte gerade lange Nase besaß, und statt
ihres streng geschnittenen Mundes zeigte der
kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, selbst
wenn er schlief. Dies hatte er alles vom Vater

oftmals aufmerkſam und ernſthaft betrachtete und
darüber ſann, ob dieſelben auch werth ſeien,
daß ſie das Haus für ſie aufrecht halte, da ſie
ja doch Seldwyler wären und bleiben würden.
Doch weil die Burſche einmal ihre Kinder
waren, ſo ließ die Eigenliebe und die Mut¬
terliebe ſie immer wieder einen guten Muth
faſſen, und ſie traute ſich zu, auch in dieſer
Sache das Steuer am Ende anders zu lenken,
als es zu Seldwyl Mode war.

In ſolche Gedanken verſunken ſaß ſie einſt
nach dem Nachteſſen am Tiſche und hatte das
Geſchäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor
ſich liegen. Die Buben lagen im Bette und
ſchliefen in der Kammer, deren Thüre offen ſtand,
und ſie hatte eben die drei ſchlafenden kleinen
Geſellen mit der Lampe in der Hand betrachtet
und beſonders den kleinſten Kerl in's Auge ge¬
faßt, der ihr am wenigſten glich. Er war blond,
hatte ein keckes Stumpfnäschen, während ſie eine
ernſthafte gerade lange Naſe beſaß, und ſtatt
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[118/0130] oftmals aufmerkſam und ernſthaft betrachtete und darüber ſann, ob dieſelben auch werth ſeien, daß ſie das Haus für ſie aufrecht halte, da ſie ja doch Seldwyler wären und bleiben würden. Doch weil die Burſche einmal ihre Kinder waren, ſo ließ die Eigenliebe und die Mut¬ terliebe ſie immer wieder einen guten Muth faſſen, und ſie traute ſich zu, auch in dieſer Sache das Steuer am Ende anders zu lenken, als es zu Seldwyl Mode war. In ſolche Gedanken verſunken ſaß ſie einſt nach dem Nachteſſen am Tiſche und hatte das Geſchäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor ſich liegen. Die Buben lagen im Bette und ſchliefen in der Kammer, deren Thüre offen ſtand, und ſie hatte eben die drei ſchlafenden kleinen Geſellen mit der Lampe in der Hand betrachtet und beſonders den kleinſten Kerl in's Auge ge¬ faßt, der ihr am wenigſten glich. Er war blond, hatte ein keckes Stumpfnäschen, während ſie eine ernſthafte gerade lange Naſe beſaß, und ſtatt ihres ſtreng geſchnittenen Mundes zeigte der kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, ſelbſt wenn er ſchlief. Dies hatte er alles vom Vater

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/130>, abgerufen am 04.05.2024.