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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Schuhe brachte, auf dem Hausflur auf das sorg¬
fältigste sich seinen rothen Schnurrbart reinigte,
da er zuverlässig erwartete, es würde diesmal
etwas vorgehen und er geküßt werden! Wenn
man ihn kommen sah, so begab sich die ganze
Gesellschaft auf eine verdeckte Gallerie, um dem
armen Teufel in seinem feierlichen Werke zuzu¬
sehen. Das sonderbarste war, daß Niemand an
diesem Wesen ein Ärgerniß nahm, daß man also
nichts besseres von Lydia zu erwarten schien, und
ihre Aufführung ihrer würdig hielt, daß also ich
der Einzige war, der so große Meinungen von
ihr im Herzen trug, und mithin alle diese Hans¬
narren, die ich verachtete, die sie aber nahmen,
wie sie war, klüger zu sein schienen, als ich in
meiner tiefsinnigen Leidenschaft. Aber nein! rief
ich, sie ist doch so, wie ich sie denke, und eben
weil das alles Strohköpfe sind, sind sie so frech
gegen sie und wissen nicht, was an ihr ist oder
sein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein
Mal den Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr besse¬
res Bild zurückstrahlte und alles Werthlose um sie
her wegblendete. Allein der äußere Anstand und
die Haltung, welche ich auch bei aller Anstrengung

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Schuhe brachte, auf dem Hausflur auf das ſorg¬
fältigſte ſich ſeinen rothen Schnurrbart reinigte,
da er zuverläſſig erwartete, es würde diesmal
etwas vorgehen und er geküßt werden! Wenn
man ihn kommen ſah, ſo begab ſich die ganze
Geſellſchaft auf eine verdeckte Gallerie, um dem
armen Teufel in ſeinem feierlichen Werke zuzu¬
ſehen. Das ſonderbarſte war, daß Niemand an
dieſem Weſen ein Ärgerniß nahm, daß man alſo
nichts beſſeres von Lydia zu erwarten ſchien, und
ihre Aufführung ihrer würdig hielt, daß alſo ich
der Einzige war, der ſo große Meinungen von
ihr im Herzen trug, und mithin alle dieſe Hans¬
narren, die ich verachtete, die ſie aber nahmen,
wie ſie war, klüger zu ſein ſchienen, als ich in
meiner tiefſinnigen Leidenſchaft. Aber nein! rief
ich, ſie iſt doch ſo, wie ich ſie denke, und eben
weil das alles Strohköpfe ſind, ſind ſie ſo frech
gegen ſie und wiſſen nicht, was an ihr iſt oder
ſein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein
Mal den Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr beſſe¬
res Bild zurückſtrahlte und alles Werthloſe um ſie
her wegblendete. Allein der äußere Anſtand und
die Haltung, welche ich auch bei aller Anſtrengung

7 *
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[99/0111] Schuhe brachte, auf dem Hausflur auf das ſorg¬ fältigſte ſich ſeinen rothen Schnurrbart reinigte, da er zuverläſſig erwartete, es würde diesmal etwas vorgehen und er geküßt werden! Wenn man ihn kommen ſah, ſo begab ſich die ganze Geſellſchaft auf eine verdeckte Gallerie, um dem armen Teufel in ſeinem feierlichen Werke zuzu¬ ſehen. Das ſonderbarſte war, daß Niemand an dieſem Weſen ein Ärgerniß nahm, daß man alſo nichts beſſeres von Lydia zu erwarten ſchien, und ihre Aufführung ihrer würdig hielt, daß alſo ich der Einzige war, der ſo große Meinungen von ihr im Herzen trug, und mithin alle dieſe Hans¬ narren, die ich verachtete, die ſie aber nahmen, wie ſie war, klüger zu ſein ſchienen, als ich in meiner tiefſinnigen Leidenſchaft. Aber nein! rief ich, ſie iſt doch ſo, wie ich ſie denke, und eben weil das alles Strohköpfe ſind, ſind ſie ſo frech gegen ſie und wiſſen nicht, was an ihr iſt oder ſein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein Mal den Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr beſſe¬ res Bild zurückſtrahlte und alles Werthloſe um ſie her wegblendete. Allein der äußere Anſtand und die Haltung, welche ich auch bei aller Anſtrengung 7 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/111>, abgerufen am 12.12.2024.