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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Das Bild neigte sich herab und gab der Beatrix
die Schlüssel, welche über das große Wunder freudig
erschrack. Sogleich that sie ihren Dienst und ordnete
das und jenes, und als die Glocke zum Mittagsmahl
erklang, ging sie zu Tisch. Viele Nonnen waren alt
geworden, andere gestorben, junge waren neu ange¬
kommen und eine andere Aebtissin saß oben am Tisch;
aber Niemand gewahrte, was mit Beatrix, welche
ihren gewohnten Platz einnahm, vorgegangen war;
denn die Maria hatte ihre Stelle in der Nonne ei¬
gener Gestalt versehen.

Nachdem nun abermals etwa zehn Jahre vergan¬
gen waren, feierten die Nonnen ein großes Fest und
wurden einig, daß jede von ihnen der Mutter Gottes
ein Geschenk, so fein sie es zu bereiten vermöchte,
darbringen solle. So stickte die Eine ein köstliches
Kirchenbanner, die Andere eine Altardecke, die Dritte
ein Meßgewand. Eine dichtete einen lateinischen
Hymnus und die Andere setzte ihn in Musik, die
Dritte malte und schrieb ein Gebetbuch. Welche gar
nichts anderes konnte, nähte dem Christuskinde ein
neues Hemdchen und die Schwester Köchin buck ihm
eine Schüssel Kräpflein. Einzig Beatrix hatte nichts
bereitet, da sie etwas müde war vom Leben und mit
ihren Gedanken mehr in der Vergangenheit lebte als
in der Gegenwart.

Das Bild neigte ſich herab und gab der Beatrix
die Schlüſſel, welche über das große Wunder freudig
erſchrack. Sogleich that ſie ihren Dienſt und ordnete
das und jenes, und als die Glocke zum Mittagsmahl
erklang, ging ſie zu Tiſch. Viele Nonnen waren alt
geworden, andere geſtorben, junge waren neu ange¬
kommen und eine andere Aebtiſſin ſaß oben am Tiſch;
aber Niemand gewahrte, was mit Beatrix, welche
ihren gewohnten Platz einnahm, vorgegangen war;
denn die Maria hatte ihre Stelle in der Nonne ei¬
gener Geſtalt verſehen.

Nachdem nun abermals etwa zehn Jahre vergan¬
gen waren, feierten die Nonnen ein großes Feſt und
wurden einig, daß jede von ihnen der Mutter Gottes
ein Geſchenk, ſo fein ſie es zu bereiten vermöchte,
darbringen ſolle. So ſtickte die Eine ein köſtliches
Kirchenbanner, die Andere eine Altardecke, die Dritte
ein Meßgewand. Eine dichtete einen lateiniſchen
Hymnus und die Andere ſetzte ihn in Muſik, die
Dritte malte und ſchrieb ein Gebetbuch. Welche gar
nichts anderes konnte, nähte dem Chriſtuskinde ein
neues Hemdchen und die Schweſter Köchin buck ihm
eine Schüſſel Kräpflein. Einzig Beatrix hatte nichts
bereitet, da ſie etwas müde war vom Leben und mit
ihren Gedanken mehr in der Vergangenheit lebte als
in der Gegenwart.

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[79/0093] Das Bild neigte ſich herab und gab der Beatrix die Schlüſſel, welche über das große Wunder freudig erſchrack. Sogleich that ſie ihren Dienſt und ordnete das und jenes, und als die Glocke zum Mittagsmahl erklang, ging ſie zu Tiſch. Viele Nonnen waren alt geworden, andere geſtorben, junge waren neu ange¬ kommen und eine andere Aebtiſſin ſaß oben am Tiſch; aber Niemand gewahrte, was mit Beatrix, welche ihren gewohnten Platz einnahm, vorgegangen war; denn die Maria hatte ihre Stelle in der Nonne ei¬ gener Geſtalt verſehen. Nachdem nun abermals etwa zehn Jahre vergan¬ gen waren, feierten die Nonnen ein großes Feſt und wurden einig, daß jede von ihnen der Mutter Gottes ein Geſchenk, ſo fein ſie es zu bereiten vermöchte, darbringen ſolle. So ſtickte die Eine ein köſtliches Kirchenbanner, die Andere eine Altardecke, die Dritte ein Meßgewand. Eine dichtete einen lateiniſchen Hymnus und die Andere ſetzte ihn in Muſik, die Dritte malte und ſchrieb ein Gebetbuch. Welche gar nichts anderes konnte, nähte dem Chriſtuskinde ein neues Hemdchen und die Schweſter Köchin buck ihm eine Schüſſel Kräpflein. Einzig Beatrix hatte nichts bereitet, da ſie etwas müde war vom Leben und mit ihren Gedanken mehr in der Vergangenheit lebte als in der Gegenwart.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/93>, abgerufen am 25.04.2024.