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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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Indessen war der wirkliche Zendelwald aus sei¬
nem unzeitigen Schlaf erwacht und fand die Sonne
so stark vorgeschritten, daß das Turnier wohl vorbei
sein mußte. Obgleich er nun des Handelns glücklich
enthoben war, fühlte er sich doch sehr unglücklich und
traurig, denn er hätte doch die Frau Bertrade gar
zu gerne geheirathet. Auch durfte er jetzt nicht mehr
zu seiner Mutter zurückkehren, und so entschloß er sich,
eine immerwährende freudlose Irrfahrt anzutreten,
bis ihn der Tod von seinem unnützen Dasein erlösen
würde. Nur wollte er vorher noch ein Mal die Ge¬
liebte sehen und sich ihr Bild für die übrigen Tage
einprägen, damit er stets wüßte, was er verscherzt
habe.

Er legte also den Weg bis zur Burg vollends
zurück. Als er das Menschengedränge erreichte, hörte
er überall das Lob und das Glück eines armen Rit¬
ters Zendelwald ausrufen, der den Preis errungen
habe, und bitterlich neugierig, wer dieser glückliche
Namensvetter sein möge, stieg er vom Pferde und
drängte sich durch die Menge, bis er am Rande des
Gartens einen Platz gewinnen konnte, und zwar an
einer erhöhten Stelle, wo er das ganze Fest übersah.

Da erblickte er in Schmuck und Glanz und un¬
weit der funkelnden Krone des Königs das in Glück
strahlende Antlitz der Geliebten, aber Haupt an Haupt

Indeſſen war der wirkliche Zendelwald aus ſei¬
nem unzeitigen Schlaf erwacht und fand die Sonne
ſo ſtark vorgeſchritten, daß das Turnier wohl vorbei
ſein mußte. Obgleich er nun des Handelns glücklich
enthoben war, fühlte er ſich doch ſehr unglücklich und
traurig, denn er hätte doch die Frau Bertrade gar
zu gerne geheirathet. Auch durfte er jetzt nicht mehr
zu ſeiner Mutter zurückkehren, und ſo entſchloß er ſich,
eine immerwährende freudloſe Irrfahrt anzutreten,
bis ihn der Tod von ſeinem unnützen Daſein erlöſen
würde. Nur wollte er vorher noch ein Mal die Ge¬
liebte ſehen und ſich ihr Bild für die übrigen Tage
einprägen, damit er ſtets wüßte, was er verſcherzt
habe.

Er legte alſo den Weg bis zur Burg vollends
zurück. Als er das Menſchengedränge erreichte, hörte
er überall das Lob und das Glück eines armen Rit¬
ters Zendelwald ausrufen, der den Preis errungen
habe, und bitterlich neugierig, wer dieſer glückliche
Namensvetter ſein möge, ſtieg er vom Pferde und
drängte ſich durch die Menge, bis er am Rande des
Gartens einen Platz gewinnen konnte, und zwar an
einer erhöhten Stelle, wo er das ganze Feſt überſah.

Da erblickte er in Schmuck und Glanz und un¬
weit der funkelnden Krone des Königs das in Glück
ſtrahlende Antlitz der Geliebten, aber Haupt an Haupt

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[61/0075] Indeſſen war der wirkliche Zendelwald aus ſei¬ nem unzeitigen Schlaf erwacht und fand die Sonne ſo ſtark vorgeſchritten, daß das Turnier wohl vorbei ſein mußte. Obgleich er nun des Handelns glücklich enthoben war, fühlte er ſich doch ſehr unglücklich und traurig, denn er hätte doch die Frau Bertrade gar zu gerne geheirathet. Auch durfte er jetzt nicht mehr zu ſeiner Mutter zurückkehren, und ſo entſchloß er ſich, eine immerwährende freudloſe Irrfahrt anzutreten, bis ihn der Tod von ſeinem unnützen Daſein erlöſen würde. Nur wollte er vorher noch ein Mal die Ge¬ liebte ſehen und ſich ihr Bild für die übrigen Tage einprägen, damit er ſtets wüßte, was er verſcherzt habe. Er legte alſo den Weg bis zur Burg vollends zurück. Als er das Menſchengedränge erreichte, hörte er überall das Lob und das Glück eines armen Rit¬ ters Zendelwald ausrufen, der den Preis errungen habe, und bitterlich neugierig, wer dieſer glückliche Namensvetter ſein möge, ſtieg er vom Pferde und drängte ſich durch die Menge, bis er am Rande des Gartens einen Platz gewinnen konnte, und zwar an einer erhöhten Stelle, wo er das ganze Feſt überſah. Da erblickte er in Schmuck und Glanz und un¬ weit der funkelnden Krone des Königs das in Glück ſtrahlende Antlitz der Geliebten, aber Haupt an Haupt

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/75>, abgerufen am 29.03.2024.