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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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bei ihr zu seinem bleichen Erstaunen seine eigene Per¬
son, wie er leibte und lebte. Wie leblos starrte er
hin, just sah er seinen Doppelgänger die fromme
Braut umfangen und küssen; da schritt er, unbeachtet
in der allgemeinen Freude, unaufhaltsam durch die
Reihen, bis er dicht hinter dem Paare stand, von
seltsamer Eifersucht gepeinigt. In demselben Augen¬
blicke war sein Ebenbild von Bertrades Seite ver¬
schwunden, und diese sah sich erschrocken nach ihm um.
Als sie aber Zendelwald hinter sich sah, lachte sie
voll Freude und sagte: Wo willst Du hin? Komm,
bleibe fein bei mir! Und sie ergriff seine Hand und
zog ihn an ihre Seite.

So saß er denn, und um den vermeintlichen
Traum recht zu probiren, ergriff er den vor ihm
stehenden Becher und leerte ihn auf einen Zug. Der
Wein hielt Stich und strömte ein zuversichtliches Le¬
ben in seine Adern; wohl aufgelegt wandte er sich
zum lächelnden Weibe und sah ihr in die Augen,
worauf diese zufrieden die trauliche Unterhaltung
fortsetzte, in welcher sie vorhin unterbrochen worden
war. Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm ge¬
schah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte sprach,
auf welche er einige Male, ohne sich zu besinnen,
Worte erwiederte, die er auch schon irgendwo gespro¬
chen hatte; ja, nach einiger Zeit merkte er, daß sein

bei ihr zu ſeinem bleichen Erſtaunen ſeine eigene Per¬
ſon, wie er leibte und lebte. Wie leblos ſtarrte er
hin, juſt ſah er ſeinen Doppelgänger die fromme
Braut umfangen und küſſen; da ſchritt er, unbeachtet
in der allgemeinen Freude, unaufhaltſam durch die
Reihen, bis er dicht hinter dem Paare ſtand, von
ſeltſamer Eiferſucht gepeinigt. In demſelben Augen¬
blicke war ſein Ebenbild von Bertrades Seite ver¬
ſchwunden, und dieſe ſah ſich erſchrocken nach ihm um.
Als ſie aber Zendelwald hinter ſich ſah, lachte ſie
voll Freude und ſagte: Wo willſt Du hin? Komm,
bleibe fein bei mir! Und ſie ergriff ſeine Hand und
zog ihn an ihre Seite.

So ſaß er denn, und um den vermeintlichen
Traum recht zu probiren, ergriff er den vor ihm
ſtehenden Becher und leerte ihn auf einen Zug. Der
Wein hielt Stich und ſtrömte ein zuverſichtliches Le¬
ben in ſeine Adern; wohl aufgelegt wandte er ſich
zum lächelnden Weibe und ſah ihr in die Augen,
worauf dieſe zufrieden die trauliche Unterhaltung
fortſetzte, in welcher ſie vorhin unterbrochen worden
war. Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm ge¬
ſchah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte ſprach,
auf welche er einige Male, ohne ſich zu beſinnen,
Worte erwiederte, die er auch ſchon irgendwo geſpro¬
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[62/0076] bei ihr zu ſeinem bleichen Erſtaunen ſeine eigene Per¬ ſon, wie er leibte und lebte. Wie leblos ſtarrte er hin, juſt ſah er ſeinen Doppelgänger die fromme Braut umfangen und küſſen; da ſchritt er, unbeachtet in der allgemeinen Freude, unaufhaltſam durch die Reihen, bis er dicht hinter dem Paare ſtand, von ſeltſamer Eiferſucht gepeinigt. In demſelben Augen¬ blicke war ſein Ebenbild von Bertrades Seite ver¬ ſchwunden, und dieſe ſah ſich erſchrocken nach ihm um. Als ſie aber Zendelwald hinter ſich ſah, lachte ſie voll Freude und ſagte: Wo willſt Du hin? Komm, bleibe fein bei mir! Und ſie ergriff ſeine Hand und zog ihn an ihre Seite. So ſaß er denn, und um den vermeintlichen Traum recht zu probiren, ergriff er den vor ihm ſtehenden Becher und leerte ihn auf einen Zug. Der Wein hielt Stich und ſtrömte ein zuverſichtliches Le¬ ben in ſeine Adern; wohl aufgelegt wandte er ſich zum lächelnden Weibe und ſah ihr in die Augen, worauf dieſe zufrieden die trauliche Unterhaltung fortſetzte, in welcher ſie vorhin unterbrochen worden war. Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm ge¬ ſchah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte ſprach, auf welche er einige Male, ohne ſich zu beſinnen, Worte erwiederte, die er auch ſchon irgendwo geſpro¬ chen hatte; ja, nach einiger Zeit merkte er, daß ſein

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/76>, abgerufen am 19.04.2024.