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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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er ging wohlgefällig um den Tisch herum, nicht ohne
der lieblichen Erato einen Augenblick das Kinn zu
streicheln im Vorbeigehen. Als es dergestalt hoch
herging an dem Musentisch, erschien sogar unsere liebe
Frau in all' ihrer Schönheit und Güte, setzte sich auf
ein Stündchen zu den Musen und küßte die hehre
Urania unter ihrem Sternenkranze zärtlich auf den
Mund, als sie ihr beim Abschiede zuflüsterte, sie werde
nicht ruhen, bis die Musen für immer im Para¬
diese bleiben könnten.

Es ist freilich nicht so gekommen. Um sich für die
erwiesene Güte und Freundlichkeit dankbar zu erweisen
und ihren guten Willen zu zeigen, rathschlagten die
Musen untereinander und übten in einem abgelegenen
Winkel der Unterwelt einen Lobgesang ein, dem sie
die Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle
zu geben suchten. Sie theilten sich in zwei Hälften
von je vier Stimmen, über welche Urania eine Art
Oberstimme führte, und brachten so eine merkwürdige
Vokalmusik zuwege.

Als nun der nächste Festtag im Himmel gefeiert
wurde und die Musen wieder ihren Dienst thaten,
nahmen sie einen für ihr Vorhaben günstig scheinen¬
den Augenblick wahr, stellten sich zusammen auf und
begannen sänftlich ihren Gesang, der bald gar mächtig
anschwellte. Aber in diesen Räumen klang er so

er ging wohlgefällig um den Tiſch herum, nicht ohne
der lieblichen Erato einen Augenblick das Kinn zu
ſtreicheln im Vorbeigehen. Als es dergeſtalt hoch
herging an dem Muſentiſch, erſchien ſogar unſere liebe
Frau in all' ihrer Schönheit und Güte, ſetzte ſich auf
ein Stündchen zu den Muſen und küßte die hehre
Urania unter ihrem Sternenkranze zärtlich auf den
Mund, als ſie ihr beim Abſchiede zuflüſterte, ſie werde
nicht ruhen, bis die Muſen für immer im Para¬
dieſe bleiben könnten.

Es iſt freilich nicht ſo gekommen. Um ſich für die
erwieſene Güte und Freundlichkeit dankbar zu erweiſen
und ihren guten Willen zu zeigen, rathſchlagten die
Muſen untereinander und übten in einem abgelegenen
Winkel der Unterwelt einen Lobgeſang ein, dem ſie
die Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle
zu geben ſuchten. Sie theilten ſich in zwei Hälften
von je vier Stimmen, über welche Urania eine Art
Oberſtimme führte, und brachten ſo eine merkwürdige
Vokalmuſik zuwege.

Als nun der nächſte Feſttag im Himmel gefeiert
wurde und die Muſen wieder ihren Dienſt thaten,
nahmen ſie einen für ihr Vorhaben günſtig ſcheinen¬
den Augenblick wahr, ſtellten ſich zuſammen auf und
begannen ſänftlich ihren Geſang, der bald gar mächtig
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[147/0161] er ging wohlgefällig um den Tiſch herum, nicht ohne der lieblichen Erato einen Augenblick das Kinn zu ſtreicheln im Vorbeigehen. Als es dergeſtalt hoch herging an dem Muſentiſch, erſchien ſogar unſere liebe Frau in all' ihrer Schönheit und Güte, ſetzte ſich auf ein Stündchen zu den Muſen und küßte die hehre Urania unter ihrem Sternenkranze zärtlich auf den Mund, als ſie ihr beim Abſchiede zuflüſterte, ſie werde nicht ruhen, bis die Muſen für immer im Para¬ dieſe bleiben könnten. Es iſt freilich nicht ſo gekommen. Um ſich für die erwieſene Güte und Freundlichkeit dankbar zu erweiſen und ihren guten Willen zu zeigen, rathſchlagten die Muſen untereinander und übten in einem abgelegenen Winkel der Unterwelt einen Lobgeſang ein, dem ſie die Form der im Himmel üblichen feierlichen Choräle zu geben ſuchten. Sie theilten ſich in zwei Hälften von je vier Stimmen, über welche Urania eine Art Oberſtimme führte, und brachten ſo eine merkwürdige Vokalmuſik zuwege. Als nun der nächſte Feſttag im Himmel gefeiert wurde und die Muſen wieder ihren Dienſt thaten, nahmen ſie einen für ihr Vorhaben günſtig ſcheinen¬ den Augenblick wahr, ſtellten ſich zuſammen auf und begannen ſänftlich ihren Geſang, der bald gar mächtig anſchwellte. Aber in dieſen Räumen klang er ſo

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/161>, abgerufen am 28.11.2024.