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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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sie mit dem Kopfe nickte, so wolle er die Bekehrung
vollenden, wenn sie ihn schüttle, so wolle er davon
abstehen.

Allein das Bild ließ ihn in der grausamsten Un¬
gewißheit und that keins von beidem, weder nickte
es, noch schüttelte es den Kopf. Nur als ein röth¬
licher Schein vorüberziehender Frühwolken über den
Marmor flog, schien das Gesicht auf das holdeste zu
lächeln, mochte es nun sein, daß die alte Göttin, die
Beschützerin ehelicher Zucht und Sitte, sich bemerklich
machte, oder daß die neue über die Noth ihres Ver¬
ehrers lachen mußte; denn im Grunde waren beides
Frauen und diese lächert es immer, wenn ein Liebes¬
handel im Anzug ist. Aber Vitalis wurde davon
nicht klüger; im Gegentheil machte ihm die Schön¬
heit des Anblickes noch wunderlicher zu Muth, ja
merkwürdiger Weise schien das Bild die Züge der
erröthenden Jole anzunehmen, welche ihn aufforderte
ihr die Liebe zu ihm aus dem Sinne zu treiben.

Indessen wandelte um die gleiche Zeit der Vater
Joles unter den Cypressen seines Gartens umher;
er hatte einige sehr schöne neue Steine erworben,
deren Bildwerke ihn so früh auf die Beine gebracht.
Entzückt betrachtete er dieselben, indem er sie in der
aufgehenden Sonne spielen ließ. Da war ein nächt¬
licher Amethyst, worauf Luna ihren Wagen durch den

ſie mit dem Kopfe nickte, ſo wolle er die Bekehrung
vollenden, wenn ſie ihn ſchüttle, ſo wolle er davon
abſtehen.

Allein das Bild ließ ihn in der grauſamſten Un¬
gewißheit und that keins von beidem, weder nickte
es, noch ſchüttelte es den Kopf. Nur als ein röth¬
licher Schein vorüberziehender Frühwolken über den
Marmor flog, ſchien das Geſicht auf das holdeſte zu
lächeln, mochte es nun ſein, daß die alte Göttin, die
Beſchützerin ehelicher Zucht und Sitte, ſich bemerklich
machte, oder daß die neue über die Noth ihres Ver¬
ehrers lachen mußte; denn im Grunde waren beides
Frauen und dieſe lächert es immer, wenn ein Liebes¬
handel im Anzug iſt. Aber Vitalis wurde davon
nicht klüger; im Gegentheil machte ihm die Schön¬
heit des Anblickes noch wunderlicher zu Muth, ja
merkwürdiger Weiſe ſchien das Bild die Züge der
erröthenden Jole anzunehmen, welche ihn aufforderte
ihr die Liebe zu ihm aus dem Sinne zu treiben.

Indeſſen wandelte um die gleiche Zeit der Vater
Joles unter den Cypreſſen ſeines Gartens umher;
er hatte einige ſehr ſchöne neue Steine erworben,
deren Bildwerke ihn ſo früh auf die Beine gebracht.
Entzückt betrachtete er dieſelben, indem er ſie in der
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[110/0124] ſie mit dem Kopfe nickte, ſo wolle er die Bekehrung vollenden, wenn ſie ihn ſchüttle, ſo wolle er davon abſtehen. Allein das Bild ließ ihn in der grauſamſten Un¬ gewißheit und that keins von beidem, weder nickte es, noch ſchüttelte es den Kopf. Nur als ein röth¬ licher Schein vorüberziehender Frühwolken über den Marmor flog, ſchien das Geſicht auf das holdeſte zu lächeln, mochte es nun ſein, daß die alte Göttin, die Beſchützerin ehelicher Zucht und Sitte, ſich bemerklich machte, oder daß die neue über die Noth ihres Ver¬ ehrers lachen mußte; denn im Grunde waren beides Frauen und dieſe lächert es immer, wenn ein Liebes¬ handel im Anzug iſt. Aber Vitalis wurde davon nicht klüger; im Gegentheil machte ihm die Schön¬ heit des Anblickes noch wunderlicher zu Muth, ja merkwürdiger Weiſe ſchien das Bild die Züge der erröthenden Jole anzunehmen, welche ihn aufforderte ihr die Liebe zu ihm aus dem Sinne zu treiben. Indeſſen wandelte um die gleiche Zeit der Vater Joles unter den Cypreſſen ſeines Gartens umher; er hatte einige ſehr ſchöne neue Steine erworben, deren Bildwerke ihn ſo früh auf die Beine gebracht. Entzückt betrachtete er dieſelben, indem er ſie in der aufgehenden Sonne ſpielen ließ. Da war ein nächt¬ licher Amethyſt, worauf Luna ihren Wagen durch den

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/124>, abgerufen am 28.03.2024.