Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.Jole ohne aufzublicken, "dort will sie das Leben einer "Gepriesen seist du, Herr, und gelobt deine gna¬ "Warum sagtest du: die Thörin? und wer bist Die liebliche Jole richtete jetzt ihr dunkles Auge "Ich bin," sagte sie, "eine verstoßene Waise, die Jole ohne aufzublicken, „dort will ſie das Leben einer „Geprieſen ſeiſt du, Herr, und gelobt deine gna¬ „Warum ſagteſt du: die Thörin? und wer biſt Die liebliche Jole richtete jetzt ihr dunkles Auge „Ich bin,“ ſagte ſie, „eine verſtoßene Waiſe, die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0116" n="102"/> Jole ohne aufzublicken, „dort will ſie das Leben einer<lb/> Einſiedlerin führen und büßen; denn es hat ſie dieſen<lb/> Morgen plötzlich übernommen und darnieder geworfen<lb/> gleich einem Grashalm, und ihr Gewiſſen iſt endlich<lb/> aufgewacht. Sie rief nach einem gewiſſen Prieſter<lb/> Vitalis, daß er ihr beiſtehen möchte. Allein der Geiſt,<lb/> der in ſie gefahren, ließ ſie nicht länger harren; die<lb/> Thörin raffte alle ihre Habe zuſammen, verkaufte ſie<lb/> und gab das Geld den Armen, worauf ſie ſtehenden<lb/> Fußes in einem härenen Hemd und mit abgeſchnit¬<lb/> tenem Haar, einen Stecken in der Hand, hinauszog,<lb/> wo die Wildniß iſt.“</p><lb/> <p>„Geprieſen ſeiſt du, Herr, und gelobt deine gna¬<lb/> denvolle Mutter!“ rief Vitalis, voll fröhlicher An¬<lb/> dacht die Hände faltend, indem es ihm wie eine Stein¬<lb/> laſt vom Herzen fiel; zugleich aber betrachtete er das<lb/> Mädchen mit ſeinem Roſenkränzchen genauer und ſprach:</p><lb/> <p>„Warum ſagteſt du: die Thörin? und wer biſt<lb/> du? von woher kommſt du und was haſt du vor?“</p><lb/> <p>Die liebliche Jole richtete jetzt ihr dunkles Auge<lb/> noch tiefer zur Erde; ſie beugte ſich vorn über und<lb/> eine hohe Schamröthe übergoß ihr Geſicht, da ſie ſich<lb/> ſelbſt der argen Dinge ſchämte, die ſie jetzt vor einem<lb/> Mann zu ſagen im Begriffe war.</p><lb/> <p>„Ich bin,“ ſagte ſie, „eine verſtoßene Waiſe, die<lb/> weder Vater noch Mutter mehr hat. Dieſer Teppich,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [102/0116]
Jole ohne aufzublicken, „dort will ſie das Leben einer
Einſiedlerin führen und büßen; denn es hat ſie dieſen
Morgen plötzlich übernommen und darnieder geworfen
gleich einem Grashalm, und ihr Gewiſſen iſt endlich
aufgewacht. Sie rief nach einem gewiſſen Prieſter
Vitalis, daß er ihr beiſtehen möchte. Allein der Geiſt,
der in ſie gefahren, ließ ſie nicht länger harren; die
Thörin raffte alle ihre Habe zuſammen, verkaufte ſie
und gab das Geld den Armen, worauf ſie ſtehenden
Fußes in einem härenen Hemd und mit abgeſchnit¬
tenem Haar, einen Stecken in der Hand, hinauszog,
wo die Wildniß iſt.“
„Geprieſen ſeiſt du, Herr, und gelobt deine gna¬
denvolle Mutter!“ rief Vitalis, voll fröhlicher An¬
dacht die Hände faltend, indem es ihm wie eine Stein¬
laſt vom Herzen fiel; zugleich aber betrachtete er das
Mädchen mit ſeinem Roſenkränzchen genauer und ſprach:
„Warum ſagteſt du: die Thörin? und wer biſt
du? von woher kommſt du und was haſt du vor?“
Die liebliche Jole richtete jetzt ihr dunkles Auge
noch tiefer zur Erde; ſie beugte ſich vorn über und
eine hohe Schamröthe übergoß ihr Geſicht, da ſie ſich
ſelbſt der argen Dinge ſchämte, die ſie jetzt vor einem
Mann zu ſagen im Begriffe war.
„Ich bin,“ ſagte ſie, „eine verſtoßene Waiſe, die
weder Vater noch Mutter mehr hat. Dieſer Teppich,
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