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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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einen Teppich, einen Rosenstock und eine Lampe
hinübertragen, und als ihr Vater, welcher mit der
Sonne zur Ruhe ging, eingeschlafen war, ging sie
selbst hin, das Haar mit einem Rosenkränzlein ge¬
schmückt, und setzte sich mutterseelenallein auf den aus¬
gebreiteten Teppich, indessen zwei zuverlässige alte
Diener die Hausthüre bewachten.

Dieselben jagten verschiedene Nachtschwärmer davon;
sobald sie dagegen den Vitalis herankommen sahen,
verbargen sie sich und ließen ihn ungehindert in die
offene Thüre treten. Mit vielen Seufzern stieg er
die Treppe hinan, voll Furcht, sich abermals genarrt
zu sehen, und voll Hoffnung, endlich von dieser Last
befreit zu werden durch die aufrichtige Reue eines
Geschöpfes, welches ihn verhinderte, so viele andere
Seelen zu retten. Allein wie erstaunte er, als er, in
das Gemach getreten, dasselbe von all' dem Flitter¬
staat der wilden rothen Löwin geleert und statt
ihrer eine anmuthige und zarte Gestalt auf dem Tep¬
pich sitzend fand, das Rosenstöckchen sich gegenüber auf
demselben Boden.

"Wo ist die Unselige, die hier wohnte?" rief er,
indem er verwundert um sich schaute und dann seine
Blicke auf der lieblichen Erscheinung ruhen ließ, die
er vor sich sah.

"Sie ist fortgewandert in die Wüste," erwiederte

einen Teppich, einen Roſenſtock und eine Lampe
hinübertragen, und als ihr Vater, welcher mit der
Sonne zur Ruhe ging, eingeſchlafen war, ging ſie
ſelbſt hin, das Haar mit einem Roſenkränzlein ge¬
ſchmückt, und ſetzte ſich mutterſeelenallein auf den aus¬
gebreiteten Teppich, indeſſen zwei zuverläſſige alte
Diener die Hausthüre bewachten.

Dieſelben jagten verſchiedene Nachtſchwärmer davon;
ſobald ſie dagegen den Vitalis herankommen ſahen,
verbargen ſie ſich und ließen ihn ungehindert in die
offene Thüre treten. Mit vielen Seufzern ſtieg er
die Treppe hinan, voll Furcht, ſich abermals genarrt
zu ſehen, und voll Hoffnung, endlich von dieſer Laſt
befreit zu werden durch die aufrichtige Reue eines
Geſchöpfes, welches ihn verhinderte, ſo viele andere
Seelen zu retten. Allein wie erſtaunte er, als er, in
das Gemach getreten, dasſelbe von all' dem Flitter¬
ſtaat der wilden rothen Löwin geleert und ſtatt
ihrer eine anmuthige und zarte Geſtalt auf dem Tep¬
pich ſitzend fand, das Roſenſtöckchen ſich gegenüber auf
demſelben Boden.

„Wo iſt die Unſelige, die hier wohnte?“ rief er,
indem er verwundert um ſich ſchaute und dann ſeine
Blicke auf der lieblichen Erſcheinung ruhen ließ, die
er vor ſich ſah.

„Sie iſt fortgewandert in die Wüſte,“ erwiederte

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[101/0115] einen Teppich, einen Roſenſtock und eine Lampe hinübertragen, und als ihr Vater, welcher mit der Sonne zur Ruhe ging, eingeſchlafen war, ging ſie ſelbſt hin, das Haar mit einem Roſenkränzlein ge¬ ſchmückt, und ſetzte ſich mutterſeelenallein auf den aus¬ gebreiteten Teppich, indeſſen zwei zuverläſſige alte Diener die Hausthüre bewachten. Dieſelben jagten verſchiedene Nachtſchwärmer davon; ſobald ſie dagegen den Vitalis herankommen ſahen, verbargen ſie ſich und ließen ihn ungehindert in die offene Thüre treten. Mit vielen Seufzern ſtieg er die Treppe hinan, voll Furcht, ſich abermals genarrt zu ſehen, und voll Hoffnung, endlich von dieſer Laſt befreit zu werden durch die aufrichtige Reue eines Geſchöpfes, welches ihn verhinderte, ſo viele andere Seelen zu retten. Allein wie erſtaunte er, als er, in das Gemach getreten, dasſelbe von all' dem Flitter¬ ſtaat der wilden rothen Löwin geleert und ſtatt ihrer eine anmuthige und zarte Geſtalt auf dem Tep¬ pich ſitzend fand, das Roſenſtöckchen ſich gegenüber auf demſelben Boden. „Wo iſt die Unſelige, die hier wohnte?“ rief er, indem er verwundert um ſich ſchaute und dann ſeine Blicke auf der lieblichen Erſcheinung ruhen ließ, die er vor ſich ſah. „Sie iſt fortgewandert in die Wüſte,“ erwiederte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/115>, abgerufen am 28.03.2024.