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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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sen hätte, eilte er von dannen, aber nicht, um auf sei¬
nem harten Lager noch ein Stündchen Schlaf zu finden,
sondern um vor dem Altare der Jungfrau für die
arme reuevolle Seele zu beten, bis der Tag vollends
angebrochen wäre; denn er gelobte, kein Auge zu
schließen, bis das verirrte Lamm nunmehr sicher hinter
den schützenden Klostermauern verwahrt sei.

Kaum war auch der Morgen lebendig geworden,
so machte er sich wieder auf den Weg nach ihrem
Hause, sah aber auch gleichzeitig vom andern Ende
der Straße den wilden Kriegsmann daher kommen,
welcher nach einer durchschwelgten Nacht, halb betrun¬
ken, es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Hetäre end¬
lich wieder zu erobern.

Vitalis war näher an der unseligen Thüre und
behende sprang er darauf zu, um sie vollends zu er¬
reichen; da schleuderte jener den Speer nach ihm, der
dicht neben des Mönches Kopf in der Thüre stecken
blieb, daß der Schaft zitterte. Aber noch ehe er aus¬
gezittert, riß ihn der Mönch mit aller Kraft aus dem
Holz, kehrte sich gegen den wüthend herbeigesprunge¬
nen Soldaten, der ein bloßes Schwert zückte, und trieb
ihm mit Blitzesschnelle den Speer durch die Brust;
todt sank der Mann zusammen und Vitalis wurde
fast im selbigen Augenblicke durch einen Trupp Kriegs¬
knechte, die von der Nachtwache kamen und seine That

ſen hätte, eilte er von dannen, aber nicht, um auf ſei¬
nem harten Lager noch ein Stündchen Schlaf zu finden,
ſondern um vor dem Altare der Jungfrau für die
arme reuevolle Seele zu beten, bis der Tag vollends
angebrochen wäre; denn er gelobte, kein Auge zu
ſchließen, bis das verirrte Lamm nunmehr ſicher hinter
den ſchützenden Kloſtermauern verwahrt ſei.

Kaum war auch der Morgen lebendig geworden,
ſo machte er ſich wieder auf den Weg nach ihrem
Hauſe, ſah aber auch gleichzeitig vom andern Ende
der Straße den wilden Kriegsmann daher kommen,
welcher nach einer durchſchwelgten Nacht, halb betrun¬
ken, es ſich in den Kopf geſetzt hatte, die Hetäre end¬
lich wieder zu erobern.

Vitalis war näher an der unſeligen Thüre und
behende ſprang er darauf zu, um ſie vollends zu er¬
reichen; da ſchleuderte jener den Speer nach ihm, der
dicht neben des Mönches Kopf in der Thüre ſtecken
blieb, daß der Schaft zitterte. Aber noch ehe er aus¬
gezittert, riß ihn der Mönch mit aller Kraft aus dem
Holz, kehrte ſich gegen den wüthend herbeigeſprunge¬
nen Soldaten, der ein bloßes Schwert zückte, und trieb
ihm mit Blitzesſchnelle den Speer durch die Bruſt;
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[96/0110] ſen hätte, eilte er von dannen, aber nicht, um auf ſei¬ nem harten Lager noch ein Stündchen Schlaf zu finden, ſondern um vor dem Altare der Jungfrau für die arme reuevolle Seele zu beten, bis der Tag vollends angebrochen wäre; denn er gelobte, kein Auge zu ſchließen, bis das verirrte Lamm nunmehr ſicher hinter den ſchützenden Kloſtermauern verwahrt ſei. Kaum war auch der Morgen lebendig geworden, ſo machte er ſich wieder auf den Weg nach ihrem Hauſe, ſah aber auch gleichzeitig vom andern Ende der Straße den wilden Kriegsmann daher kommen, welcher nach einer durchſchwelgten Nacht, halb betrun¬ ken, es ſich in den Kopf geſetzt hatte, die Hetäre end¬ lich wieder zu erobern. Vitalis war näher an der unſeligen Thüre und behende ſprang er darauf zu, um ſie vollends zu er¬ reichen; da ſchleuderte jener den Speer nach ihm, der dicht neben des Mönches Kopf in der Thüre ſtecken blieb, daß der Schaft zitterte. Aber noch ehe er aus¬ gezittert, riß ihn der Mönch mit aller Kraft aus dem Holz, kehrte ſich gegen den wüthend herbeigeſprunge¬ nen Soldaten, der ein bloßes Schwert zückte, und trieb ihm mit Blitzesſchnelle den Speer durch die Bruſt; todt ſank der Mann zuſammen und Vitalis wurde faſt im ſelbigen Augenblicke durch einen Trupp Kriegs¬ knechte, die von der Nachtwache kamen und ſeine That

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/110>, abgerufen am 20.04.2024.