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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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sie sehen müssen; denn nicht nur das Leben und
die Welt um sie herum, sondern sie selbst wurde
durch und durch poetisch. Das Licht der Sonne
schien ihr tausendmal schöner als anderen Men¬
schen, was da lebt und webt war und ist ihr
theuer und lieb, das Leben wurde ihr heilig und
der Tod wurde ihr heilig, welchen sie sehr ernst¬
haft nimmt. Sie gewöhnte sich, zu jeder Stunde
ohne Schrecken an den Tod zu denken, mitten in
dem heitersten Sonnenschein des Glückes, und
daß wir Alle einst ohne Spaß und für immer
davon scheiden müssen. Dieser wirkliche Tod
lehrt sie das Leben werth halten und gut ver¬
wenden und dies wiederum den Tod nicht fürch¬
ten, während das ganze vorübergehende Dasein
unserer Person, unser aufblitzendes und verschwin¬
dendes Tanzen im Weltlichte diesem ganzen We¬
sen einen leichten, zarten, halb fröhlichen, halb
elegischen Anhauch giebt, das drückende, been¬
gende Gewicht vom Einzelnen nimmt und seinen
schwerfälligen Ansprüchen, indeß das Ganze doch
besteht. Und welche Pietät und Mitleid hegt
sie für die Sterbenden und Todten! Ihnen,

ſie ſehen muͤſſen; denn nicht nur das Leben und
die Welt um ſie herum, ſondern ſie ſelbſt wurde
durch und durch poetiſch. Das Licht der Sonne
ſchien ihr tauſendmal ſchoͤner als anderen Men¬
ſchen, was da lebt und webt war und iſt ihr
theuer und lieb, das Leben wurde ihr heilig und
der Tod wurde ihr heilig, welchen ſie ſehr ernſt¬
haft nimmt. Sie gewoͤhnte ſich, zu jeder Stunde
ohne Schrecken an den Tod zu denken, mitten in
dem heiterſten Sonnenſchein des Gluͤckes, und
daß wir Alle einſt ohne Spaß und fuͤr immer
davon ſcheiden muͤſſen. Dieſer wirkliche Tod
lehrt ſie das Leben werth halten und gut ver¬
wenden und dies wiederum den Tod nicht fuͤrch¬
ten, waͤhrend das ganze voruͤbergehende Daſein
unſerer Perſon, unſer aufblitzendes und verſchwin¬
dendes Tanzen im Weltlichte dieſem ganzen We¬
ſen einen leichten, zarten, halb froͤhlichen, halb
elegiſchen Anhauch giebt, das druͤckende, been¬
gende Gewicht vom Einzelnen nimmt und ſeinen
ſchwerfaͤlligen Anſpruͤchen, indeß das Ganze doch
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[382/0392] ſie ſehen muͤſſen; denn nicht nur das Leben und die Welt um ſie herum, ſondern ſie ſelbſt wurde durch und durch poetiſch. Das Licht der Sonne ſchien ihr tauſendmal ſchoͤner als anderen Men¬ ſchen, was da lebt und webt war und iſt ihr theuer und lieb, das Leben wurde ihr heilig und der Tod wurde ihr heilig, welchen ſie ſehr ernſt¬ haft nimmt. Sie gewoͤhnte ſich, zu jeder Stunde ohne Schrecken an den Tod zu denken, mitten in dem heiterſten Sonnenſchein des Gluͤckes, und daß wir Alle einſt ohne Spaß und fuͤr immer davon ſcheiden muͤſſen. Dieſer wirkliche Tod lehrt ſie das Leben werth halten und gut ver¬ wenden und dies wiederum den Tod nicht fuͤrch¬ ten, waͤhrend das ganze voruͤbergehende Daſein unſerer Perſon, unſer aufblitzendes und verſchwin¬ dendes Tanzen im Weltlichte dieſem ganzen We¬ ſen einen leichten, zarten, halb froͤhlichen, halb elegiſchen Anhauch giebt, das druͤckende, been¬ gende Gewicht vom Einzelnen nimmt und ſeinen ſchwerfaͤlligen Anſpruͤchen, indeß das Ganze doch beſteht. Und welche Pietaͤt und Mitleid hegt ſie fuͤr die Sterbenden und Todten! Ihnen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/392>, abgerufen am 27.04.2024.