fand eine freundliche Matrone, nicht ganz von dem edlen und feinen Wesen meiner Großmutter, aber doch voll Anstand und Wohlwollen. Sie lebte allein mit einer Tochter, welche früher, einer häufigen Sitte gemäß, zwei Jahre in der Stadt gedient, dann einen vermöglichen Bauer geheira¬ thet hatte, welcher bald gestorben, und nun Witwe bleiben wollte, wie sie versicherte, obgleich sie erst ungefähr dreißig Jahre alt war. Sie war von hohem und festem Wuchse, ihr Gesicht hatte den ausgeprägten Typus unserer Familie, aber durch eine seltsame Schönheit verklärt; besonders die großen braunen Augen und der Mund mit dem vollen üppigen Kinn machten augenblicklichen Eindruck. Dazu schmückte sie ein schweres dunk¬ les, fast nicht zu bewältigendes Haar. Sie galt für eine Art Lorelei, obschon sie Judith hieß, auch Niemand etwas Bestimmtes oder Nachtheiliges von ihr wußte. Dies Weib trat nun herein, vom Garten kommend, etwas zurückgebogen, da sie in der Schürze eine Last frisch gepflückter Ernte¬ äpfel und darüber eine Masse gebrochener Blu¬ men trug. Dies schüttete sie alles auf den Tisch,
fand eine freundliche Matrone, nicht ganz von dem edlen und feinen Weſen meiner Großmutter, aber doch voll Anſtand und Wohlwollen. Sie lebte allein mit einer Tochter, welche fruͤher, einer haͤufigen Sitte gemaͤß, zwei Jahre in der Stadt gedient, dann einen vermoͤglichen Bauer geheira¬ thet hatte, welcher bald geſtorben, und nun Witwe bleiben wollte, wie ſie verſicherte, obgleich ſie erſt ungefaͤhr dreißig Jahre alt war. Sie war von hohem und feſtem Wuchſe, ihr Geſicht hatte den ausgepraͤgten Typus unſerer Familie, aber durch eine ſeltſame Schoͤnheit verklaͤrt; beſonders die großen braunen Augen und der Mund mit dem vollen uͤppigen Kinn machten augenblicklichen Eindruck. Dazu ſchmuͤckte ſie ein ſchweres dunk¬ les, faſt nicht zu bewaͤltigendes Haar. Sie galt fuͤr eine Art Lorelei, obſchon ſie Judith hieß, auch Niemand etwas Beſtimmtes oder Nachtheiliges von ihr wußte. Dies Weib trat nun herein, vom Garten kommend, etwas zuruͤckgebogen, da ſie in der Schuͤrze eine Laſt friſch gepfluͤckter Ernte¬ aͤpfel und daruͤber eine Maſſe gebrochener Blu¬ men trug. Dies ſchuͤttete ſie alles auf den Tiſch,
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fand eine freundliche Matrone, nicht ganz von
dem edlen und feinen Weſen meiner Großmutter,
aber doch voll Anſtand und Wohlwollen. Sie
lebte allein mit einer Tochter, welche fruͤher, einer
haͤufigen Sitte gemaͤß, zwei Jahre in der Stadt
gedient, dann einen vermoͤglichen Bauer geheira¬
thet hatte, welcher bald geſtorben, und nun Witwe
bleiben wollte, wie ſie verſicherte, obgleich ſie erſt
ungefaͤhr dreißig Jahre alt war. Sie war von
hohem und feſtem Wuchſe, ihr Geſicht hatte den
ausgepraͤgten Typus unſerer Familie, aber durch
eine ſeltſame Schoͤnheit verklaͤrt; beſonders die
großen braunen Augen und der Mund mit dem
vollen uͤppigen Kinn machten augenblicklichen
Eindruck. Dazu ſchmuͤckte ſie ein ſchweres dunk¬
les, faſt nicht zu bewaͤltigendes Haar. Sie galt
fuͤr eine Art Lorelei, obſchon ſie Judith hieß, auch
Niemand etwas Beſtimmtes oder Nachtheiliges
von ihr wußte. Dies Weib trat nun herein, vom
Garten kommend, etwas zuruͤckgebogen, da ſie in
der Schuͤrze eine Laſt friſch gepfluͤckter Ernte¬
aͤpfel und daruͤber eine Maſſe gebrochener Blu¬
men trug. Dies ſchuͤttete ſie alles auf den Tiſch,
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/26>, abgerufen am 03.12.2024.
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