Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.die Nähe des gesehenen Bildes zu bringen suchte. Sie schien irgend einen tiefen Verdruß in sich die Naͤhe des geſehenen Bildes zu bringen ſuchte. Sie ſchien irgend einen tiefen Verdruß in ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0286" n="272"/> die Naͤhe des geſehenen Bildes zu bringen ſuchte.<lb/> Aber in demſelben Augenblicke befand ſie ſich<lb/> ihrerſeits einſam in der Handlung, und ich konnte<lb/> ſie nur wieder von ferne ſehen.</p><lb/> <p>Sie ſchien irgend einen tiefen Verdruß in ſich<lb/> zu tragen, und daher war ihr Spiel halb aus<lb/> Anmuth und halb aus ſichtbarem Zorne gemiſcht.<lb/> Dieſe Miſchung brachte zwar kein gutes Gret¬<lb/> chen hervor, aber ſie verlieh der Spielerin einen<lb/> eigenthuͤmlichen Reiz, ich nahm Partei fuͤr ſie<lb/> gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir<lb/> ſogleich den Roman aus, in welchen ſie etwa<lb/> verwickelt ſein moͤchte. Doch loͤſte ſich dieſes<lb/> fluͤchtige Geſpinnſte bald auf und verſchmolz ſich<lb/> mit der dargeſtellten Dichtung, als Gretchens<lb/> Schickſal tragiſch wurde. Als ſie im Kerker auf<lb/> dem Stroh lag und nachher irre redete, ſpielte<lb/> ſie ſo meiſterhaft, daß ich furchtbar erſchuͤttert<lb/> ward und doch in durſtig heißer Aufregung das<lb/> Bild des im graͤnzenloſeſten Ungluͤcke verſunkenen<lb/> Weibes in mich hineintrank; denn ich hielt das<lb/> Ungluͤck fuͤr wirklich und war eben ſo erſtaunt<lb/> als geſaͤttigt durch die Scene, welche an Staͤrke<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [272/0286]
die Naͤhe des geſehenen Bildes zu bringen ſuchte.
Aber in demſelben Augenblicke befand ſie ſich
ihrerſeits einſam in der Handlung, und ich konnte
ſie nur wieder von ferne ſehen.
Sie ſchien irgend einen tiefen Verdruß in ſich
zu tragen, und daher war ihr Spiel halb aus
Anmuth und halb aus ſichtbarem Zorne gemiſcht.
Dieſe Miſchung brachte zwar kein gutes Gret¬
chen hervor, aber ſie verlieh der Spielerin einen
eigenthuͤmlichen Reiz, ich nahm Partei fuͤr ſie
gegen ihre unbekannten Feinde und dachte mir
ſogleich den Roman aus, in welchen ſie etwa
verwickelt ſein moͤchte. Doch loͤſte ſich dieſes
fluͤchtige Geſpinnſte bald auf und verſchmolz ſich
mit der dargeſtellten Dichtung, als Gretchens
Schickſal tragiſch wurde. Als ſie im Kerker auf
dem Stroh lag und nachher irre redete, ſpielte
ſie ſo meiſterhaft, daß ich furchtbar erſchuͤttert
ward und doch in durſtig heißer Aufregung das
Bild des im graͤnzenloſeſten Ungluͤcke verſunkenen
Weibes in mich hineintrank; denn ich hielt das
Ungluͤck fuͤr wirklich und war eben ſo erſtaunt
als geſaͤttigt durch die Scene, welche an Staͤrke
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