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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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mächtige Abtei aus dem Wasser steigt, so befürch¬
tet man die schöne Fahrt wieder mittelalterlich zu
schließen; aber aus den hellgewaschenen Fenstern
des durchlüfteten Gotteshauses schauen statt der
vertriebenen Mönche blühende Jünglinge herab,
die Zöglinge einer Volkslehrerschule. So landet
man endlich zu Baden, in einer ganz veränderten
Gegend. Wieder liegt ein altes Städtchen mit
mannigfachen Thürmen und einer mächtigen
Burgruine da, doch zwischen grünen Hügeln und
Gestein, wie man sie auf den Bildern der alt¬
deutschen Maler sieht. Auf der gebrochenen Veste
hat ein deutscher Kaiser das letzte Mahl einge¬
nommen, eh' er erschlagen wurde; jetzt hat sich
der Schienenweg durch ihre Grundfelsen gebohrt.

Denkt man sich eine persönliche Schutzgöttin
des Landes, so kann die durchmessene Wasserbahn
allegorischer Weise als ihr krystallener Gürtel gel¬
ten, dessen Schlußhaken die beiden alten Städt¬
chen sind und dessen Mittelzier Zürich ist, als
größere edle Rosette.

So haben Luzern oder Genf ähnliche und
doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See

maͤchtige Abtei aus dem Waſſer ſteigt, ſo befuͤrch¬
tet man die ſchoͤne Fahrt wieder mittelalterlich zu
ſchließen; aber aus den hellgewaſchenen Fenſtern
des durchluͤfteten Gotteshauſes ſchauen ſtatt der
vertriebenen Moͤnche bluͤhende Juͤnglinge herab,
die Zoͤglinge einer Volkslehrerſchule. So landet
man endlich zu Baden, in einer ganz veraͤnderten
Gegend. Wieder liegt ein altes Staͤdtchen mit
mannigfachen Thuͤrmen und einer maͤchtigen
Burgruine da, doch zwiſchen gruͤnen Huͤgeln und
Geſtein, wie man ſie auf den Bildern der alt¬
deutſchen Maler ſieht. Auf der gebrochenen Veſte
hat ein deutſcher Kaiſer das letzte Mahl einge¬
nommen, eh' er erſchlagen wurde; jetzt hat ſich
der Schienenweg durch ihre Grundfelſen gebohrt.

Denkt man ſich eine perſoͤnliche Schutzgoͤttin
des Landes, ſo kann die durchmeſſene Waſſerbahn
allegoriſcher Weiſe als ihr kryſtallener Guͤrtel gel¬
ten, deſſen Schlußhaken die beiden alten Staͤdt¬
chen ſind und deſſen Mittelzier Zuͤrich iſt, als
groͤßere edle Roſette.

So haben Luzern oder Genf aͤhnliche und
doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See

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[5/0019] maͤchtige Abtei aus dem Waſſer ſteigt, ſo befuͤrch¬ tet man die ſchoͤne Fahrt wieder mittelalterlich zu ſchließen; aber aus den hellgewaſchenen Fenſtern des durchluͤfteten Gotteshauſes ſchauen ſtatt der vertriebenen Moͤnche bluͤhende Juͤnglinge herab, die Zoͤglinge einer Volkslehrerſchule. So landet man endlich zu Baden, in einer ganz veraͤnderten Gegend. Wieder liegt ein altes Staͤdtchen mit mannigfachen Thuͤrmen und einer maͤchtigen Burgruine da, doch zwiſchen gruͤnen Huͤgeln und Geſtein, wie man ſie auf den Bildern der alt¬ deutſchen Maler ſieht. Auf der gebrochenen Veſte hat ein deutſcher Kaiſer das letzte Mahl einge¬ nommen, eh' er erſchlagen wurde; jetzt hat ſich der Schienenweg durch ihre Grundfelſen gebohrt. Denkt man ſich eine perſoͤnliche Schutzgoͤttin des Landes, ſo kann die durchmeſſene Waſſerbahn allegoriſcher Weiſe als ihr kryſtallener Guͤrtel gel¬ ten, deſſen Schlußhaken die beiden alten Staͤdt¬ chen ſind und deſſen Mittelzier Zuͤrich iſt, als groͤßere edle Roſette. So haben Luzern oder Genf aͤhnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/19>, abgerufen am 24.04.2024.