welche mir alsobald unbesieglich widerstand. Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Priester zu nennen pflegt; denn wie sollte ich mich vor der einzigen Mutter schämen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir selber; ich konnte mich selbst nicht sprechen hören, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefsten Einsamkeit und Verborgenheit laut zu beten.
"Nun sollst Du nicht essen, bis Du gebetet hast!" sagte die Mutter, und ich stand auf und ging vom Tische weg in eine Ecke, wo ich in große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze ver¬ mischt. Meine Mutter aber blieb sitzen und that so, als ob sie essen würde, obgleich sie es nicht konnte, und es trat eine Art düstrer Spannung zwischen uns ein, wie ich sie noch nie gefühlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging schweigend ab und zu und räumte den Tisch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen sollte, brachte sie mein Essen, indem sie sich die Augen wischte, als ob ein Stäubchen darin wäre, wieder herein und sagte:
welche mir alſobald unbeſieglich widerſtand. Es war nicht Scham vor der Welt, wie es der Prieſter zu nennen pflegt; denn wie ſollte ich mich vor der einzigen Mutter ſchaͤmen, vor welcher ich bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war? Es war Scham vor mir ſelber; ich konnte mich ſelbſt nicht ſprechen hoͤren, und habe es auch nie mehr dazu gebracht, in der tiefſten Einſamkeit und Verborgenheit laut zu beten.
»Nun ſollſt Du nicht eſſen, bis Du gebetet haſt!« ſagte die Mutter, und ich ſtand auf und ging vom Tiſche weg in eine Ecke, wo ich in große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze ver¬ miſcht. Meine Mutter aber blieb ſitzen und that ſo, als ob ſie eſſen wuͤrde, obgleich ſie es nicht konnte, und es trat eine Art duͤſtrer Spannung zwiſchen uns ein, wie ich ſie noch nie gefuͤhlt hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie ging ſchweigend ab und zu und raͤumte den Tiſch ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder zur Schule gehen ſollte, brachte ſie mein Eſſen, indem ſie ſich die Augen wiſchte, als ob ein Staͤubchen darin waͤre, wieder herein und ſagte:
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war nicht Scham vor der Welt, wie es der
Prieſter zu nennen pflegt; denn wie ſollte ich mich
vor der einzigen Mutter ſchaͤmen, vor welcher ich
bei ihrer Milde nichts zu verbergen gewohnt war?
Es war Scham vor mir ſelber; ich konnte mich
ſelbſt nicht ſprechen hoͤren, und habe es auch nie
mehr dazu gebracht, in der tiefſten Einſamkeit
und Verborgenheit laut zu beten.
»Nun ſollſt Du nicht eſſen, bis Du gebetet
haſt!« ſagte die Mutter, und ich ſtand auf und
ging vom Tiſche weg in eine Ecke, wo ich in
große Traurigkeit verfiel, mit einigem Trotze ver¬
miſcht. Meine Mutter aber blieb ſitzen und that
ſo, als ob ſie eſſen wuͤrde, obgleich ſie es nicht
konnte, und es trat eine Art duͤſtrer Spannung
zwiſchen uns ein, wie ich ſie noch nie gefuͤhlt
hatte und die mir das Herz beklemmte. Sie
ging ſchweigend ab und zu und raͤumte den Tiſch
ab; als jedoch die Stunde nahte, wo ich wieder
zur Schule gehen ſollte, brachte ſie mein Eſſen,
indem ſie ſich die Augen wiſchte, als ob ein
Staͤubchen darin waͤre, wieder herein und ſagte:
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/165>, abgerufen am 22.11.2024.
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