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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Hause, und sagte mir zu diesem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erstaunte sie, als ich nur die ersten Worte trocken
hervorbrachte und dann plötzlich verstummte und
nicht weiter konnte! -- Das Essen dampfte auf
dem Tische, es war ganz still in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb stumm und niedergeschlagen,
und sie ließ es für diesmal bewenden, da sie mein
Benehmen für eine gewöhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte sich der Auftritt
und sie wurde nun ernstlich bekümmert und sagte:
"Warum willst Du nicht beten? Schämst Du
Dich?" Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr gewesen wäre in
dem Sinne, wie sie es verstand. Der gedeckte
Tisch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem solchen noch nichts wußte, und das
Händefalten nebst dem feierlichen Beten vor den
duftenden Schüsseln wurde zu einer Ceremonie,

Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬
nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung,
es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie
erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken
hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und
nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf
dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die
Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬
vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne
Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen,
und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein
Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt.
Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt
und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte:
»Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du
Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬
mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich
es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in
dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte
Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich
ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das
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[150/0164] Hauſe, und ſagte mir zu dieſem Zwecke ein klei¬ nes altes Volksgebet vor, mit der Aufforderung, es jetzt und in Zukunft nachzubeten. Aber wie erſtaunte ſie, als ich nur die erſten Worte trocken hervorbrachte und dann ploͤtzlich verſtummte und nicht weiter konnte! — Das Eſſen dampfte auf dem Tiſche, es war ganz ſtill in der Stube, die Mutter wartete, aber ich brachte keinen Laut her¬ vor. Sie wiederholte ihr Verlangen, aber ohne Erfolg; ich blieb ſtumm und niedergeſchlagen, und ſie ließ es fuͤr diesmal bewenden, da ſie mein Benehmen fuͤr eine gewoͤhnliche Kinderlaune hielt. Am folgenden Tage wiederholte ſich der Auftritt und ſie wurde nun ernſtlich bekuͤmmert und ſagte: »Warum willſt Du nicht beten? Schaͤmſt Du Dich?« Das war nun zwar der Fall, ich ver¬ mochte es aber nicht zu bejahen, weil, wenn ich es gethan, es doch nicht wahr geweſen waͤre in dem Sinne, wie ſie es verſtand. Der gedeckte Tiſch kam mir vor wie ein Opfermahl, obgleich ich von einem ſolchen noch nichts wußte, und das Haͤndefalten nebſt dem feierlichen Beten vor den duftenden Schuͤſſeln wurde zu einer Ceremonie,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/164>, abgerufen am 25.11.2024.