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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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nichts weniger, als das, was man eine warm
andächtige Frau nennt, sondern schlechthin gottes¬
fürchtig. Ihr Gott war dazumal schon nicht der
Befriediger und Erfüller einer Menge dunkler
und drangvoller Herzensbedürfnisse, sondern klar
und einfach der versorgende und erhaltende Vater,
die Vorsehung. Ihr gewöhnliches Wort war:
Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der
inbrünstigen Gottesliebe dagegen hörte ich sie nie
reden, und ich selbst habe eine Stimmung dieser
Art erst später empfunden, als das Wesen Got¬
tes mir endlich meiner reifern Empfänglichkeit
und Erkenntniß entsprechend sich ausgebildet hatte.
Desto eifriger aber hielt sie darauf, und es ward
ihr in unserer Verlassenheit für die lange und
dunkle Zukunft eine Hauptsache, daß Gott der
Ernährer und Beschützer mir immer vor Augen
sei, und sie legte mit andauernder Sorge den
Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen
in mich. In Folge dieses rührenden Bestrebens
wollte sie eines Sonntags, als wir uns eben
zu Tische gesetzt hatten, das Tischgebet einführen,
welches bis dahin nicht üblich gewesen in unserm

nichts weniger, als das, was man eine warm
andaͤchtige Frau nennt, ſondern ſchlechthin gottes¬
fuͤrchtig. Ihr Gott war dazumal ſchon nicht der
Befriediger und Erfuͤller einer Menge dunkler
und drangvoller Herzensbeduͤrfniſſe, ſondern klar
und einfach der verſorgende und erhaltende Vater,
die Vorſehung. Ihr gewoͤhnliches Wort war:
Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der
inbruͤnſtigen Gottesliebe dagegen hoͤrte ich ſie nie
reden, und ich ſelbſt habe eine Stimmung dieſer
Art erſt ſpaͤter empfunden, als das Weſen Got¬
tes mir endlich meiner reifern Empfaͤnglichkeit
und Erkenntniß entſprechend ſich ausgebildet hatte.
Deſto eifriger aber hielt ſie darauf, und es ward
ihr in unſerer Verlaſſenheit fuͤr die lange und
dunkle Zukunft eine Hauptſache, daß Gott der
Ernaͤhrer und Beſchuͤtzer mir immer vor Augen
ſei, und ſie legte mit andauernder Sorge den
Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen
in mich. In Folge dieſes ruͤhrenden Beſtrebens
wollte ſie eines Sonntags, als wir uns eben
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[149/0163] nichts weniger, als das, was man eine warm andaͤchtige Frau nennt, ſondern ſchlechthin gottes¬ fuͤrchtig. Ihr Gott war dazumal ſchon nicht der Befriediger und Erfuͤller einer Menge dunkler und drangvoller Herzensbeduͤrfniſſe, ſondern klar und einfach der verſorgende und erhaltende Vater, die Vorſehung. Ihr gewoͤhnliches Wort war: Wer Gott vergißt, den vergißt er auch; von der inbruͤnſtigen Gottesliebe dagegen hoͤrte ich ſie nie reden, und ich ſelbſt habe eine Stimmung dieſer Art erſt ſpaͤter empfunden, als das Weſen Got¬ tes mir endlich meiner reifern Empfaͤnglichkeit und Erkenntniß entſprechend ſich ausgebildet hatte. Deſto eifriger aber hielt ſie darauf, und es ward ihr in unſerer Verlaſſenheit fuͤr die lange und dunkle Zukunft eine Hauptſache, daß Gott der Ernaͤhrer und Beſchuͤtzer mir immer vor Augen ſei, und ſie legte mit andauernder Sorge den Grund zu einem unwandelbaren Gottvertrauen in mich. In Folge dieſes ruͤhrenden Beſtrebens wollte ſie eines Sonntags, als wir uns eben zu Tiſche geſetzt hatten, das Tiſchgebet einfuͤhren, welches bis dahin nicht uͤblich geweſen in unſerm

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/163>, abgerufen am 22.11.2024.