Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Beredtsamkeit und stellte mir hauptsächlich vor
auf Menschenschicksale und Lebensläufe übergehend,
wie ich vielleicht eines Tages froh sein würde,
an ihrem Tische zu sitzen und zu essen; dann
werde sie aber nicht mehr da sein. Obgleich ich
dazumal nicht recht einsah, wie das zugehen sollte,
so wurde ich doch jedesmal gerührt und von
einem geheimen Grauen ergriffen, und so für ein¬
mal geschlagen. Machte sie alsdann auch noch
auf die Undankbarkeit aufmerksam, welche ich ge¬
gen Gott beging, indem ich seine guten Gaben
tadelte, so hütete ich mich mit einer heiligen
Scheu, den allmächtigen Geber ferner zu beleidi¬
gen und versank in Nachdenken über seine treff¬
lichen und wunderbaren Eigenschaften.

Nun geschah es aber, daß in dem Maße, als
ich ihn deutlicher erfaßte und sein Wesen mir un¬
entbehrlicher und ersprießlicher wurde, mein Um¬
gang mit Gott sich verschämt zu verschleiern be¬
gann, und als meine Gebete einen vernünftigen
Sinn erhielten, mich eine wachsende Scheu be¬
schlich, sie laut herzusagen. Meine Mutter ist
eines einfachen und nüchternen Gemüthes und

Beredtſamkeit und ſtellte mir hauptſaͤchlich vor
auf Menſchenſchickſale und Lebenslaͤufe uͤbergehend,
wie ich vielleicht eines Tages froh ſein wuͤrde,
an ihrem Tiſche zu ſitzen und zu eſſen; dann
werde ſie aber nicht mehr da ſein. Obgleich ich
dazumal nicht recht einſah, wie das zugehen ſollte,
ſo wurde ich doch jedesmal geruͤhrt und von
einem geheimen Grauen ergriffen, und ſo fuͤr ein¬
mal geſchlagen. Machte ſie alsdann auch noch
auf die Undankbarkeit aufmerkſam, welche ich ge¬
gen Gott beging, indem ich ſeine guten Gaben
tadelte, ſo huͤtete ich mich mit einer heiligen
Scheu, den allmaͤchtigen Geber ferner zu beleidi¬
gen und verſank in Nachdenken uͤber ſeine treff¬
lichen und wunderbaren Eigenſchaften.

Nun geſchah es aber, daß in dem Maße, als
ich ihn deutlicher erfaßte und ſein Weſen mir un¬
entbehrlicher und erſprießlicher wurde, mein Um¬
gang mit Gott ſich verſchaͤmt zu verſchleiern be¬
gann, und als meine Gebete einen vernuͤnftigen
Sinn erhielten, mich eine wachſende Scheu be¬
ſchlich, ſie laut herzuſagen. Meine Mutter iſt
eines einfachen und nuͤchternen Gemuͤthes und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0162" n="148"/>
Beredt&#x017F;amkeit und &#x017F;tellte mir haupt&#x017F;a&#x0364;chlich vor<lb/>
auf Men&#x017F;chen&#x017F;chick&#x017F;ale und Lebensla&#x0364;ufe u&#x0364;bergehend,<lb/>
wie ich vielleicht eines Tages froh &#x017F;ein wu&#x0364;rde,<lb/>
an ihrem Ti&#x017F;che zu &#x017F;itzen und zu e&#x017F;&#x017F;en; dann<lb/>
werde &#x017F;ie aber nicht mehr da &#x017F;ein. Obgleich ich<lb/>
dazumal nicht recht ein&#x017F;ah, wie das zugehen &#x017F;ollte,<lb/>
&#x017F;o wurde ich doch jedesmal geru&#x0364;hrt und von<lb/>
einem geheimen Grauen ergriffen, und &#x017F;o fu&#x0364;r ein¬<lb/>
mal ge&#x017F;chlagen. Machte &#x017F;ie alsdann auch noch<lb/>
auf die Undankbarkeit aufmerk&#x017F;am, welche ich ge¬<lb/>
gen Gott beging, indem ich &#x017F;eine guten Gaben<lb/>
tadelte, &#x017F;o hu&#x0364;tete ich mich mit einer heiligen<lb/>
Scheu, den allma&#x0364;chtigen Geber ferner zu beleidi¬<lb/>
gen und ver&#x017F;ank in Nachdenken u&#x0364;ber &#x017F;eine treff¬<lb/>
lichen und wunderbaren Eigen&#x017F;chaften.</p><lb/>
        <p>Nun ge&#x017F;chah es aber, daß in dem Maße, als<lb/>
ich ihn deutlicher erfaßte und &#x017F;ein We&#x017F;en mir un¬<lb/>
entbehrlicher und er&#x017F;prießlicher wurde, mein Um¬<lb/>
gang mit Gott &#x017F;ich ver&#x017F;cha&#x0364;mt zu ver&#x017F;chleiern be¬<lb/>
gann, und als meine Gebete einen vernu&#x0364;nftigen<lb/>
Sinn erhielten, mich eine wach&#x017F;ende Scheu be¬<lb/>
&#x017F;chlich, &#x017F;ie laut herzu&#x017F;agen. Meine Mutter i&#x017F;t<lb/>
eines einfachen und nu&#x0364;chternen Gemu&#x0364;thes und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0162] Beredtſamkeit und ſtellte mir hauptſaͤchlich vor auf Menſchenſchickſale und Lebenslaͤufe uͤbergehend, wie ich vielleicht eines Tages froh ſein wuͤrde, an ihrem Tiſche zu ſitzen und zu eſſen; dann werde ſie aber nicht mehr da ſein. Obgleich ich dazumal nicht recht einſah, wie das zugehen ſollte, ſo wurde ich doch jedesmal geruͤhrt und von einem geheimen Grauen ergriffen, und ſo fuͤr ein¬ mal geſchlagen. Machte ſie alsdann auch noch auf die Undankbarkeit aufmerkſam, welche ich ge¬ gen Gott beging, indem ich ſeine guten Gaben tadelte, ſo huͤtete ich mich mit einer heiligen Scheu, den allmaͤchtigen Geber ferner zu beleidi¬ gen und verſank in Nachdenken uͤber ſeine treff¬ lichen und wunderbaren Eigenſchaften. Nun geſchah es aber, daß in dem Maße, als ich ihn deutlicher erfaßte und ſein Weſen mir un¬ entbehrlicher und erſprießlicher wurde, mein Um¬ gang mit Gott ſich verſchaͤmt zu verſchleiern be¬ gann, und als meine Gebete einen vernuͤnftigen Sinn erhielten, mich eine wachſende Scheu be¬ ſchlich, ſie laut herzuſagen. Meine Mutter iſt eines einfachen und nuͤchternen Gemuͤthes und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/162
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/162>, abgerufen am 22.11.2024.