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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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und jeder Individualität. Ihre Suppe war nicht
fett und nicht mager, der Caffe nicht stark und
nicht schwach, sie verschwendete kein Salzkorn zu
viel und keines hat je gefehlt, sie kochte schlecht
und recht, ohne Manierirtheit, wie die Künstler
sagen, in den reinsten Verhältnissen; man konnte
von ihren Speisen eine große Menge genießen,
ohne sich den Magen zu verderben. Sie schien
mit ihrer weisen und maßvollen Hand, am Herde
stehend, täglich das Sprüchwort zu verkörpern:
Der Mensch ißt, um zu leben, und lebt nicht,
um zu essen! Nie und in keiner Weise war ein
Ueberfluß zu bemerken und ebenso wenig ein
Mangel. Diese nüchterne Mittelstraße langweilte
mich, der ich meinen Gaumen dann und wann
anderswo bedeutend reizte, und ich begann, über
ihre Mahlzeiten eine scharfe Kritik zu üben, so¬
bald ich satt und die letzte Gabel voll vertilgt
war. Da ich mit meiner Mutter immer allein
bei Tische saß und sie lieber auf Gespräch und
Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erzie¬
hungssystem, so wies sie mich nicht kurz und
strafend zur Ruhe, sondern widerlegte mich mit

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und jeder Individualitaͤt. Ihre Suppe war nicht
fett und nicht mager, der Caffe nicht ſtark und
nicht ſchwach, ſie verſchwendete kein Salzkorn zu
viel und keines hat je gefehlt, ſie kochte ſchlecht
und recht, ohne Manierirtheit, wie die Kuͤnſtler
ſagen, in den reinſten Verhaͤltniſſen; man konnte
von ihren Speiſen eine große Menge genießen,
ohne ſich den Magen zu verderben. Sie ſchien
mit ihrer weiſen und maßvollen Hand, am Herde
ſtehend, taͤglich das Spruͤchwort zu verkoͤrpern:
Der Menſch ißt, um zu leben, und lebt nicht,
um zu eſſen! Nie und in keiner Weiſe war ein
Ueberfluß zu bemerken und ebenſo wenig ein
Mangel. Dieſe nuͤchterne Mittelſtraße langweilte
mich, der ich meinen Gaumen dann und wann
anderswo bedeutend reizte, und ich begann, uͤber
ihre Mahlzeiten eine ſcharfe Kritik zu uͤben, ſo¬
bald ich ſatt und die letzte Gabel voll vertilgt
war. Da ich mit meiner Mutter immer allein
bei Tiſche ſaß und ſie lieber auf Geſpraͤch und
Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erzie¬
hungsſyſtem, ſo wies ſie mich nicht kurz und
ſtrafend zur Ruhe, ſondern widerlegte mich mit

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[147/0161] und jeder Individualitaͤt. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Caffe nicht ſtark und nicht ſchwach, ſie verſchwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt, ſie kochte ſchlecht und recht, ohne Manierirtheit, wie die Kuͤnſtler ſagen, in den reinſten Verhaͤltniſſen; man konnte von ihren Speiſen eine große Menge genießen, ohne ſich den Magen zu verderben. Sie ſchien mit ihrer weiſen und maßvollen Hand, am Herde ſtehend, taͤglich das Spruͤchwort zu verkoͤrpern: Der Menſch ißt, um zu leben, und lebt nicht, um zu eſſen! Nie und in keiner Weiſe war ein Ueberfluß zu bemerken und ebenſo wenig ein Mangel. Dieſe nuͤchterne Mittelſtraße langweilte mich, der ich meinen Gaumen dann und wann anderswo bedeutend reizte, und ich begann, uͤber ihre Mahlzeiten eine ſcharfe Kritik zu uͤben, ſo¬ bald ich ſatt und die letzte Gabel voll vertilgt war. Da ich mit meiner Mutter immer allein bei Tiſche ſaß und ſie lieber auf Geſpraͤch und Unterhaltung dachte, als auf ein genaues Erzie¬ hungsſyſtem, ſo wies ſie mich nicht kurz und ſtrafend zur Ruhe, ſondern widerlegte mich mit 10 *

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/161>, abgerufen am 22.11.2024.