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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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war für mich recht eigentlich das, was die Phan¬
tasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden ver¬
steht. Auf diesem Dache stand ein schlankes,
nadelspitzes Thürmchen, in welchem eine kleine
Glocke hing, und auf dessen Spitze sich ein glän¬
zender goldener Hahn drehte. Wenn in der
Dämmerung das Glöckchen läutete, so sprach
meine Mutter von Gott und lehrte mich beten;
ich fragte: Was ist Gott? ist es ein Mann?
und sie antwortete: Nein, Gott ist ein Geist!
Das Kirchendach versank nach und nach in grauen
Schatten, das Licht klomm an dem Thürmchen
hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen
Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich
mich plötzlich des bestimmten Glaubens, daß dieser
Hahn Gott sei. Er spielte auch eine unbestimmte
Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kinder¬
gebeten, welche ich mit vielem Vergnügen herzu¬
sagen wußte. Als ich aber einst ein Bilderbuch
bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger an¬
sehnlich dasitzend abgebildet war, ging meine Vor¬
stellung von Gott allmälig auf diesen über, ohne
daß ich jedoch, so wenig wie vom Hahne, je eine

war fuͤr mich recht eigentlich das, was die Phan¬
taſie ſonſt unter ſeligen Auen oder Gefilden ver¬
ſteht. Auf dieſem Dache ſtand ein ſchlankes,
nadelſpitzes Thuͤrmchen, in welchem eine kleine
Glocke hing, und auf deſſen Spitze ſich ein glaͤn¬
zender goldener Hahn drehte. Wenn in der
Daͤmmerung das Gloͤckchen laͤutete, ſo ſprach
meine Mutter von Gott und lehrte mich beten;
ich fragte: Was iſt Gott? iſt es ein Mann?
und ſie antwortete: Nein, Gott iſt ein Geiſt!
Das Kirchendach verſank nach und nach in grauen
Schatten, das Licht klomm an dem Thuͤrmchen
hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen
Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich
mich ploͤtzlich des beſtimmten Glaubens, daß dieſer
Hahn Gott ſei. Er ſpielte auch eine unbeſtimmte
Rolle der Anweſenheit in den kleinen Kinder¬
gebeten, welche ich mit vielem Vergnuͤgen herzu¬
ſagen wußte. Als ich aber einſt ein Bilderbuch
bekam, in dem ein praͤchtig gefaͤrbter Tiger an¬
ſehnlich daſitzend abgebildet war, ging meine Vor¬
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[132/0146] war fuͤr mich recht eigentlich das, was die Phan¬ taſie ſonſt unter ſeligen Auen oder Gefilden ver¬ ſteht. Auf dieſem Dache ſtand ein ſchlankes, nadelſpitzes Thuͤrmchen, in welchem eine kleine Glocke hing, und auf deſſen Spitze ſich ein glaͤn¬ zender goldener Hahn drehte. Wenn in der Daͤmmerung das Gloͤckchen laͤutete, ſo ſprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte: Was iſt Gott? iſt es ein Mann? und ſie antwortete: Nein, Gott iſt ein Geiſt! Das Kirchendach verſank nach und nach in grauen Schatten, das Licht klomm an dem Thuͤrmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich ploͤtzlich des beſtimmten Glaubens, daß dieſer Hahn Gott ſei. Er ſpielte auch eine unbeſtimmte Rolle der Anweſenheit in den kleinen Kinder¬ gebeten, welche ich mit vielem Vergnuͤgen herzu¬ ſagen wußte. Als ich aber einſt ein Bilderbuch bekam, in dem ein praͤchtig gefaͤrbter Tiger an¬ ſehnlich daſitzend abgebildet war, ging meine Vor¬ ſtellung von Gott allmaͤlig auf dieſen uͤber, ohne daß ich jedoch, ſo wenig wie vom Hahne, je eine

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/146>, abgerufen am 08.05.2024.