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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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schäftigte, deren Name aber ebenso ein leerer
Schall für mich war, wie das Wort Berg. Da
die fernen Schneekuppen bald verhüllt, bald hel¬
ler oder dunkler, weiß oder roth sichtbar waren,
so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wun¬
derbares und Mächtiges, wie die Wolken, und
pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke
oder Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung
und Neugierde einflößten. So nannte ich, ich
höre das Wort noch schwach in meinen Ohren
klingen und man hat es mir nachher oft erzählt,
die erste weibliche Gestalt, welche mir wohlgefiel
und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, die
weiße Wolke, von dem ersten Eindrucke, den sie
in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte.
Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise
ein langes hohes Kirchendach, das mächtig über
alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen
Westen gekehrte große Fläche war für meine
Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem sie
mit immer neuer Lust ruhten, wenn die letzten
Strahlen der Sonne es beschienen, und diese
schiefe, rothglühende Ebene über der dunkeln Stadt

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ſchaͤftigte, deren Name aber ebenſo ein leerer
Schall fuͤr mich war, wie das Wort Berg. Da
die fernen Schneekuppen bald verhuͤllt, bald hel¬
ler oder dunkler, weiß oder roth ſichtbar waren,
ſo hielt ich ſie wohl fuͤr etwas Lebendiges, Wun¬
derbares und Maͤchtiges, wie die Wolken, und
pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke
oder Berg zu belegen, wenn ſie mir Achtung
und Neugierde einfloͤßten. So nannte ich, ich
hoͤre das Wort noch ſchwach in meinen Ohren
klingen und man hat es mir nachher oft erzaͤhlt,
die erſte weibliche Geſtalt, welche mir wohlgefiel
und ein Maͤdchen aus der Nachbarſchaft war, die
weiße Wolke, von dem erſten Eindrucke, den ſie
in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte.
Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweiſe
ein langes hohes Kirchendach, das maͤchtig uͤber
alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen
Weſten gekehrte große Flaͤche war fuͤr meine
Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem ſie
mit immer neuer Luſt ruhten, wenn die letzten
Strahlen der Sonne es beſchienen, und dieſe
ſchiefe, rothgluͤhende Ebene uͤber der dunkeln Stadt

9*
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[131/0145] ſchaͤftigte, deren Name aber ebenſo ein leerer Schall fuͤr mich war, wie das Wort Berg. Da die fernen Schneekuppen bald verhuͤllt, bald hel¬ ler oder dunkler, weiß oder roth ſichtbar waren, ſo hielt ich ſie wohl fuͤr etwas Lebendiges, Wun¬ derbares und Maͤchtiges, wie die Wolken, und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder Berg zu belegen, wenn ſie mir Achtung und Neugierde einfloͤßten. So nannte ich, ich hoͤre das Wort noch ſchwach in meinen Ohren klingen und man hat es mir nachher oft erzaͤhlt, die erſte weibliche Geſtalt, welche mir wohlgefiel und ein Maͤdchen aus der Nachbarſchaft war, die weiße Wolke, von dem erſten Eindrucke, den ſie in einem weißen Kleide auf mich gemacht hatte. Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweiſe ein langes hohes Kirchendach, das maͤchtig uͤber alle Giebel emporragte, den Berg. Seine gegen Weſten gekehrte große Flaͤche war fuͤr meine Augen ein unermeßliches Feld, auf welchem ſie mit immer neuer Luſt ruhten, wenn die letzten Strahlen der Sonne es beſchienen, und dieſe ſchiefe, rothgluͤhende Ebene uͤber der dunkeln Stadt 9*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/145>, abgerufen am 24.11.2024.