Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Denn eines Tages geschah es, daß das ganze
Dorf in große Bewegung gesetzt wurde durch die
Ankunft eines schönen, schlanken Mannes, der
einen feinen grünen Frack trug nach dem neuesten
Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und
glänzende Suwarowstiefeln mit gelben Stulpen.
Wenn es regnerisch aussah, so führte er einen
rothseidenen Schirm mit sich, und eine große
goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den
Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬
strich. Dieser Mann bewegte sich mit einem edeln
Anstande in den Gassen des Dorfes umher und
trat freundlich und leutselig in die niederen Thü¬
ren, verschiedene alte Mütterchen und Gevattern
aufsuchend, und war niemand Anders, als der
weitgereiste Steinmetzgeselle Lee, welcher seine
lange Wanderschaft ruhmvoll beendigt hatte. Man
kann wohl sagen ruhmvoll, wenn man bedenkt,
daß er vor zwölf Jahren, als ein vierzehnjähriger
Knabe, arm und bloß das Dorf verlassen hatte,
hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange
Arbeit abverdienen mußte, mit einem dürftigen
Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und

Denn eines Tages geſchah es, daß das ganze
Dorf in große Bewegung geſetzt wurde durch die
Ankunft eines ſchoͤnen, ſchlanken Mannes, der
einen feinen gruͤnen Frack trug nach dem neueſten
Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und
glaͤnzende Suwarowſtiefeln mit gelben Stulpen.
Wenn es regneriſch ausſah, ſo fuͤhrte er einen
rothſeidenen Schirm mit ſich, und eine große
goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den
Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬
ſtrich. Dieſer Mann bewegte ſich mit einem edeln
Anſtande in den Gaſſen des Dorfes umher und
trat freundlich und leutſelig in die niederen Thuͤ¬
ren, verſchiedene alte Muͤtterchen und Gevattern
aufſuchend, und war niemand Anders, als der
weitgereiſte Steinmetzgeſelle Lee, welcher ſeine
lange Wanderſchaft ruhmvoll beendigt hatte. Man
kann wohl ſagen ruhmvoll, wenn man bedenkt,
daß er vor zwoͤlf Jahren, als ein vierzehnjaͤhriger
Knabe, arm und bloß das Dorf verlaſſen hatte,
hierauf bei ſeinem Meiſter die Lehrzeit durch lange
Arbeit abverdienen mußte, mit einem duͤrftigen
Felleiſen und wenig Geld in die Fremde zog und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0118" n="104"/>
        <p>Denn eines Tages ge&#x017F;chah es, daß das ganze<lb/>
Dorf in große Bewegung ge&#x017F;etzt wurde durch die<lb/>
Ankunft eines &#x017F;cho&#x0364;nen, &#x017F;chlanken Mannes, der<lb/>
einen feinen gru&#x0364;nen Frack trug nach dem neue&#x017F;ten<lb/>
Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und<lb/>
gla&#x0364;nzende Suwarow&#x017F;tiefeln mit gelben Stulpen.<lb/>
Wenn es regneri&#x017F;ch aus&#x017F;ah, &#x017F;o fu&#x0364;hrte er einen<lb/>
roth&#x017F;eidenen Schirm mit &#x017F;ich, und eine große<lb/>
goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den<lb/>
Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬<lb/>
&#x017F;trich. Die&#x017F;er Mann bewegte &#x017F;ich mit einem edeln<lb/>
An&#x017F;tande in den Ga&#x017F;&#x017F;en des Dorfes umher und<lb/>
trat freundlich und leut&#x017F;elig in die niederen Thu&#x0364;¬<lb/>
ren, ver&#x017F;chiedene alte Mu&#x0364;tterchen und Gevattern<lb/>
auf&#x017F;uchend, und war niemand Anders, als der<lb/>
weitgerei&#x017F;te Steinmetzge&#x017F;elle Lee, welcher &#x017F;eine<lb/>
lange Wander&#x017F;chaft ruhmvoll beendigt hatte. Man<lb/>
kann wohl &#x017F;agen ruhmvoll, wenn man bedenkt,<lb/>
daß er vor zwo&#x0364;lf Jahren, als ein vierzehnja&#x0364;hriger<lb/>
Knabe, arm und bloß das Dorf verla&#x017F;&#x017F;en hatte,<lb/>
hierauf bei &#x017F;einem Mei&#x017F;ter die Lehrzeit durch lange<lb/>
Arbeit abverdienen mußte, mit einem du&#x0364;rftigen<lb/>
Fellei&#x017F;en und wenig Geld in die Fremde zog und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[104/0118] Denn eines Tages geſchah es, daß das ganze Dorf in große Bewegung geſetzt wurde durch die Ankunft eines ſchoͤnen, ſchlanken Mannes, der einen feinen gruͤnen Frack trug nach dem neueſten Schnitte, eng anliegende weiße Beinkleider und glaͤnzende Suwarowſtiefeln mit gelben Stulpen. Wenn es regneriſch ausſah, ſo fuͤhrte er einen rothſeidenen Schirm mit ſich, und eine große goldene Uhr von feiner Arbeit gab ihm in den Augen der Bauern einen ungemein vornehmen An¬ ſtrich. Dieſer Mann bewegte ſich mit einem edeln Anſtande in den Gaſſen des Dorfes umher und trat freundlich und leutſelig in die niederen Thuͤ¬ ren, verſchiedene alte Muͤtterchen und Gevattern aufſuchend, und war niemand Anders, als der weitgereiſte Steinmetzgeſelle Lee, welcher ſeine lange Wanderſchaft ruhmvoll beendigt hatte. Man kann wohl ſagen ruhmvoll, wenn man bedenkt, daß er vor zwoͤlf Jahren, als ein vierzehnjaͤhriger Knabe, arm und bloß das Dorf verlaſſen hatte, hierauf bei ſeinem Meiſter die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte, mit einem duͤrftigen Felleiſen und wenig Geld in die Fremde zog und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/118
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/118>, abgerufen am 08.05.2024.