muthlich in der Hoffnung, daß sie sich wol noch in Ber- lin zu seinem Besten besinnen würde. Als sie auf den Reisewagen stieg, nahm er seine kleine einzige, und ihm liebste Tochter auf die Arme und rief unter Thrä- nengüssen: "Ach, wenn ich nur wenigstens dich behal- ten könnte, dich, an der mein ganzes Leben hängt!" Aber der Kutscher und Diener des Barons trieben zur Abfahrt; er setzte sein Kind auf den Wagen, indem er es segnete, ihm tausend Lebewohl wünschte und in der Gestalt eines Verzweifelten, den selbst die Hoffnung verläßt, blieb er hinter dem Wagen zurück. --
Die Dichterin kam glücklich, und ferner unverfolgt in Frankfurt an, wo sie auf die sanfteste Weise über- nachtete; von da ging es nach dem palläste-reichen Berlin.
Es war am 25. Januar 1761, als sie hier erschien. Ihre Aufnahme geschah im Hause des Wiener Ge- sandten, Herrn Grafen von Gotter, woselbst auch der Baron von Kottwitz logirte. Hier war, wie überall, schon alles zu ihrer Ankunft auf das begünstigste be- reitet, und weil es Mittag war, so wurde auch sogleich ihr und ihrer Tochter ein Tisch mit fünf auserlesenen Schüsseln vorgetragen. Wer mags beschreiben, wie ihr bei dieser Mahlzeit zu Muthe war?
Sie hatte im December 1760 ihr 38stes Jahr voll- endet. Dieses Alter, in welchem die mehresten
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muthlich in der Hoffnung, daß ſie ſich wol noch in Ber- lin zu ſeinem Beſten beſinnen wuͤrde. Als ſie auf den Reiſewagen ſtieg, nahm er ſeine kleine einzige, und ihm liebſte Tochter auf die Arme und rief unter Thraͤ- nenguͤſſen: „Ach, wenn ich nur wenigſtens dich behal- ten koͤnnte, dich, an der mein ganzes Leben haͤngt!„ Aber der Kutſcher und Diener des Barons trieben zur Abfahrt; er ſetzte ſein Kind auf den Wagen, indem er es ſegnete, ihm tauſend Lebewohl wuͤnſchte und in der Geſtalt eines Verzweifelten, den ſelbſt die Hoffnung verlaͤßt, blieb er hinter dem Wagen zuruͤck. —
Die Dichterin kam gluͤcklich, und ferner unverfolgt in Frankfurt an, wo ſie auf die ſanfteſte Weiſe uͤber- nachtete; von da ging es nach dem pallaͤſte-reichen Berlin.
Es war am 25. Januar 1761, als ſie hier erſchien. Ihre Aufnahme geſchah im Hauſe des Wiener Ge- ſandten, Herrn Grafen von Gotter, woſelbſt auch der Baron von Kottwitz logirte. Hier war, wie uͤberall, ſchon alles zu ihrer Ankunft auf das beguͤnſtigſte be- reitet, und weil es Mittag war, ſo wurde auch ſogleich ihr und ihrer Tochter ein Tiſch mit fuͤnf auserleſenen Schuͤſſeln vorgetragen. Wer mags beſchreiben, wie ihr bei dieſer Mahlzeit zu Muthe war?
Sie hatte im December 1760 ihr 38ſtes Jahr voll- endet. Dieſes Alter, in welchem die mehreſten
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muthlich in der Hoffnung, daß ſie ſich wol noch in Ber-
lin zu ſeinem Beſten beſinnen wuͤrde. Als ſie auf den
Reiſewagen ſtieg, nahm er ſeine kleine einzige, und
ihm liebſte Tochter auf die Arme und rief unter Thraͤ-
nenguͤſſen: „Ach, wenn ich nur wenigſtens dich behal-
ten koͤnnte, dich, an der mein ganzes Leben haͤngt!„
Aber der Kutſcher und Diener des Barons trieben zur
Abfahrt; er ſetzte ſein Kind auf den Wagen, indem er
es ſegnete, ihm tauſend Lebewohl wuͤnſchte und in der
Geſtalt eines Verzweifelten, den ſelbſt die Hoffnung
verlaͤßt, blieb er hinter dem Wagen zuruͤck. —
Die Dichterin kam gluͤcklich, und ferner unverfolgt
in Frankfurt an, wo ſie auf die ſanfteſte Weiſe uͤber-
nachtete; von da ging es nach dem pallaͤſte-reichen
Berlin.
Es war am 25. Januar 1761, als ſie hier erſchien.
Ihre Aufnahme geſchah im Hauſe des Wiener Ge-
ſandten, Herrn Grafen von Gotter, woſelbſt auch der
Baron von Kottwitz logirte. Hier war, wie uͤberall,
ſchon alles zu ihrer Ankunft auf das beguͤnſtigſte be-
reitet, und weil es Mittag war, ſo wurde auch ſogleich
ihr und ihrer Tochter ein Tiſch mit fuͤnf auserleſenen
Schuͤſſeln vorgetragen. Wer mags beſchreiben, wie
ihr bei dieſer Mahlzeit zu Muthe war?
Sie hatte im December 1760 ihr 38ſtes Jahr voll-
endet. Dieſes Alter, in welchem die mehreſten
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/119>, abgerufen am 21.11.2024.
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