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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
letztern Unterschied vor Augen hat, so kann man sich erklä-
ren, wie ein Vergnügen, dem, der es empfindet, selbst mis-
fallen könne (wie die Freude eines dürftigen aber wohlden-
kenden Menschen über die Erbschaft von seinem ihn liebenden
aber kargen Vater) oder wie ein tiefer Schmerz dem der ihn
leidet doch gefallen könne (die Traurigkeit einer Wittwe über
ihres verdienstvollen Mannes Tod) oder wie ein Vergnügen
oben ein noch gefallen könne (wie das an Wissenschaften, die
wir treiben) oder ein Schmerz (z. B. Haß, Neid und Rach-
gierde) uns noch dazu misfallen könne. Das Wohlgefallen
oder Misfallen beruht hier auf der Vernunft und ist mit der
Billigung oder Misbilligung einerley; Vergnügen und
Schmerz aber können nur auf dem Gefühl oder der Aussicht
eines, aus welchem Grunde es auch sey, auf ein mögliches
Wohl- oder Uebelbefinden beruhen.

Alles wechselnde freye Spiel der Empfindungen (die
keine Absicht zum Grunde haben) vergnügt; weil es das
Gefühl der Gesundheit befördert, wir mögen nun in der
Vernunftbeurtheilung an seinem Gegenstande und selbst an
diesem Vergnügen ein Wohlgefallen haben oder nicht, und
dieses Vergnügen kann bis zum Affect steigen, ob gleich wir
an dem Gegenstande selbst kein Jnteresse, wenigstens kein
solches nehmen, was dem Grad des letztern proportionirt
wäre. Wir können sie ins Glücksspiel, Tonspiel und
Gedankenspiel eintheilen. Das erste fordert ein Jnteresse
es sey der Eitelkeit oder des Eigennutzes, welches aber bey
weitem nicht so gros ist, als das an der Art, wie wir es uns
zu verschaffen suchen; das zweyte blos den Wechsel der
Empfindungen, deren jede ihre Beziehung auf Affect, aber
ohne den Grad eines Affects hat, und ästhetische Jdeen rege
macht; das dritte entspringt blos aus dem Wechsel der Vor-
stellungen, in der Urtheilskraft, wodurch zwar kein Gedan-

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
letztern Unterſchied vor Augen hat, ſo kann man ſich erklaͤ-
ren, wie ein Vergnuͤgen, dem, der es empfindet, ſelbſt mis-
fallen koͤnne (wie die Freude eines duͤrftigen aber wohlden-
kenden Menſchen uͤber die Erbſchaft von ſeinem ihn liebenden
aber kargen Vater) oder wie ein tiefer Schmerz dem der ihn
leidet doch gefallen koͤnne (die Traurigkeit einer Wittwe uͤber
ihres verdienſtvollen Mannes Tod) oder wie ein Vergnuͤgen
oben ein noch gefallen koͤnne (wie das an Wiſſenſchaften, die
wir treiben) oder ein Schmerz (z. B. Haß, Neid und Rach-
gierde) uns noch dazu misfallen koͤnne. Das Wohlgefallen
oder Misfallen beruht hier auf der Vernunft und iſt mit der
Billigung oder Misbilligung einerley; Vergnuͤgen und
Schmerz aber koͤnnen nur auf dem Gefuͤhl oder der Ausſicht
eines, aus welchem Grunde es auch ſey, auf ein moͤgliches
Wohl- oder Uebelbefinden beruhen.

Alles wechſelnde freye Spiel der Empfindungen (die
keine Abſicht zum Grunde haben) vergnuͤgt; weil es das
Gefuͤhl der Geſundheit befoͤrdert, wir moͤgen nun in der
Vernunftbeurtheilung an ſeinem Gegenſtande und ſelbſt an
dieſem Vergnuͤgen ein Wohlgefallen haben oder nicht, und
dieſes Vergnuͤgen kann bis zum Affect ſteigen, ob gleich wir
an dem Gegenſtande ſelbſt kein Jntereſſe, wenigſtens kein
ſolches nehmen, was dem Grad des letztern proportionirt
waͤre. Wir koͤnnen ſie ins Gluͤcksſpiel, Tonſpiel und
Gedankenſpiel eintheilen. Das erſte fordert ein Jntereſſe
es ſey der Eitelkeit oder des Eigennutzes, welches aber bey
weitem nicht ſo gros iſt, als das an der Art, wie wir es uns
zu verſchaffen ſuchen; das zweyte blos den Wechſel der
Empfindungen, deren jede ihre Beziehung auf Affect, aber
ohne den Grad eines Affects hat, und aͤſthetiſche Jdeen rege
macht; das dritte entſpringt blos aus dem Wechſel der Vor-
ſtellungen, in der Urtheilskraft, wodurch zwar kein Gedan-

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[220/0284] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. letztern Unterſchied vor Augen hat, ſo kann man ſich erklaͤ- ren, wie ein Vergnuͤgen, dem, der es empfindet, ſelbſt mis- fallen koͤnne (wie die Freude eines duͤrftigen aber wohlden- kenden Menſchen uͤber die Erbſchaft von ſeinem ihn liebenden aber kargen Vater) oder wie ein tiefer Schmerz dem der ihn leidet doch gefallen koͤnne (die Traurigkeit einer Wittwe uͤber ihres verdienſtvollen Mannes Tod) oder wie ein Vergnuͤgen oben ein noch gefallen koͤnne (wie das an Wiſſenſchaften, die wir treiben) oder ein Schmerz (z. B. Haß, Neid und Rach- gierde) uns noch dazu misfallen koͤnne. Das Wohlgefallen oder Misfallen beruht hier auf der Vernunft und iſt mit der Billigung oder Misbilligung einerley; Vergnuͤgen und Schmerz aber koͤnnen nur auf dem Gefuͤhl oder der Ausſicht eines, aus welchem Grunde es auch ſey, auf ein moͤgliches Wohl- oder Uebelbefinden beruhen. Alles wechſelnde freye Spiel der Empfindungen (die keine Abſicht zum Grunde haben) vergnuͤgt; weil es das Gefuͤhl der Geſundheit befoͤrdert, wir moͤgen nun in der Vernunftbeurtheilung an ſeinem Gegenſtande und ſelbſt an dieſem Vergnuͤgen ein Wohlgefallen haben oder nicht, und dieſes Vergnuͤgen kann bis zum Affect ſteigen, ob gleich wir an dem Gegenſtande ſelbſt kein Jntereſſe, wenigſtens kein ſolches nehmen, was dem Grad des letztern proportionirt waͤre. Wir koͤnnen ſie ins Gluͤcksſpiel, Tonſpiel und Gedankenſpiel eintheilen. Das erſte fordert ein Jntereſſe es ſey der Eitelkeit oder des Eigennutzes, welches aber bey weitem nicht ſo gros iſt, als das an der Art, wie wir es uns zu verſchaffen ſuchen; das zweyte blos den Wechſel der Empfindungen, deren jede ihre Beziehung auf Affect, aber ohne den Grad eines Affects hat, und aͤſthetiſche Jdeen rege macht; das dritte entſpringt blos aus dem Wechſel der Vor- ſtellungen, in der Urtheilskraft, wodurch zwar kein Gedan-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/284>, abgerufen am 28.11.2024.