die unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) derjenigen Proportion der Eindrücke, in ihrer Verbin- dung sowohl als ihrem Wechsel, dadurch es möglich wird sie zusammen zu fassen und zu verhindern, daß diese einander nicht zerstöhren, sondern zu einer continuirlichen Bewegung und Belebung des Gemüths durch damit con- sonirende Affecten und hiemit zu einem behaglichen Selbstgenusse zusammenstimmen.
Wenn man dagegen den Werth der schönen Künste nach der Cultur schätzt, die sie dem Gemüth verschaffen und die Erweiterung der Vermögen, welche in der Ur- theilskraft zum Erkenntnisse zusammen kommen müssen, zum Maasstabe nimmt, so hat Musik unter den schönen Künsten so fern den untersten (so wie unter denen, die zugleich nach ihrer Annehmlichkeit geschätzt werden, vielleicht den obersten) Platz, weil sie blos mit Empfin- dungen spielt. Die bildende Künste gehen ihr also in diesem Betracht weit vor, denn indem sie die Einbil- dungskraft in ein freyes und doch zugleich dem Verstande angemessenes Spiel versetzen, so treiben sie zugleich ein Geschäfte, indem sie ein Product zu Stande bringen, welches den Verstandes-Begriffen zu einem dauerhaf- ten und für sich selbst sich empfehlenden Vehikel dient, die Vereinigung derselben mit der Sinnlichkeit und so gleichsam die Urbanität der obern Erkenntniskräfte zu befördern. Beyderley Art Künste nehmen einen ganz verschiedenen Gang: die erstere von Empfindungen zu
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
die unumgaͤngliche Bedingung (conditio ſine qua non) derjenigen Proportion der Eindruͤcke, in ihrer Verbin- dung ſowohl als ihrem Wechſel, dadurch es moͤglich wird ſie zuſammen zu faſſen und zu verhindern, daß dieſe einander nicht zerſtoͤhren, ſondern zu einer continuirlichen Bewegung und Belebung des Gemuͤths durch damit con- ſonirende Affecten und hiemit zu einem behaglichen Selbſtgenuſſe zuſammenſtimmen.
Wenn man dagegen den Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte nach der Cultur ſchaͤtzt, die ſie dem Gemuͤth verſchaffen und die Erweiterung der Vermoͤgen, welche in der Ur- theilskraft zum Erkenntniſſe zuſammen kommen muͤſſen, zum Maasſtabe nimmt, ſo hat Muſik unter den ſchoͤnen Kuͤnſten ſo fern den unterſten (ſo wie unter denen, die zugleich nach ihrer Annehmlichkeit geſchaͤtzt werden, vielleicht den oberſten) Platz, weil ſie blos mit Empfin- dungen ſpielt. Die bildende Kuͤnſte gehen ihr alſo in dieſem Betracht weit vor, denn indem ſie die Einbil- dungskraft in ein freyes und doch zugleich dem Verſtande angemeſſenes Spiel verſetzen, ſo treiben ſie zugleich ein Geſchaͤfte, indem ſie ein Product zu Stande bringen, welches den Verſtandes-Begriffen zu einem dauerhaf- ten und fuͤr ſich ſelbſt ſich empfehlenden Vehikel dient, die Vereinigung derſelben mit der Sinnlichkeit und ſo gleichſam die Urbanitaͤt der obern Erkenntniskraͤfte zu befoͤrdern. Beyderley Art Kuͤnſte nehmen einen ganz verſchiedenen Gang: die erſtere von Empfindungen zu
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
die unumgaͤngliche Bedingung (conditio ſine qua non)
derjenigen Proportion der Eindruͤcke, in ihrer Verbin-
dung ſowohl als ihrem Wechſel, dadurch es moͤglich
wird ſie zuſammen zu faſſen und zu verhindern, daß dieſe
einander nicht zerſtoͤhren, ſondern zu einer continuirlichen
Bewegung und Belebung des Gemuͤths durch damit con-
ſonirende Affecten und hiemit zu einem behaglichen
Selbſtgenuſſe zuſammenſtimmen.
Wenn man dagegen den Werth der ſchoͤnen Kuͤnſte
nach der Cultur ſchaͤtzt, die ſie dem Gemuͤth verſchaffen
und die Erweiterung der Vermoͤgen, welche in der Ur-
theilskraft zum Erkenntniſſe zuſammen kommen muͤſſen,
zum Maasſtabe nimmt, ſo hat Muſik unter den ſchoͤnen
Kuͤnſten ſo fern den unterſten (ſo wie unter denen, die
zugleich nach ihrer Annehmlichkeit geſchaͤtzt werden,
vielleicht den oberſten) Platz, weil ſie blos mit Empfin-
dungen ſpielt. Die bildende Kuͤnſte gehen ihr alſo in
dieſem Betracht weit vor, denn indem ſie die Einbil-
dungskraft in ein freyes und doch zugleich dem Verſtande
angemeſſenes Spiel verſetzen, ſo treiben ſie zugleich ein
Geſchaͤfte, indem ſie ein Product zu Stande bringen,
welches den Verſtandes-Begriffen zu einem dauerhaf-
ten und fuͤr ſich ſelbſt ſich empfehlenden Vehikel dient,
die Vereinigung derſelben mit der Sinnlichkeit und ſo
gleichſam die Urbanitaͤt der obern Erkenntniskraͤfte zu
befoͤrdern. Beyderley Art Kuͤnſte nehmen einen ganz
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/282>, abgerufen am 28.11.2024.
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