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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Nach der Dichtkunst würde ich, wenn es um den
Reitz und Bewegung des Gemüths zu thun ist,

diejenige, welche ihr unter den redenden am nächsten
kommt und sich damit auch sehr natürlich vereinigen läßt,
nämlich die Tonkunst setzen. Denn, ob sie zwar durch
lauter Empfindungen ohne Begriffe spricht, mithin
nicht, wie die Poesie, etwas zum Nachdenken übrig blei-
ben läßt, so bewegt sie doch das Gemüth mannigfaltiger
und, obgleich blos vorübergehend, doch inniglicher, ist
aber freylich mehr Genuß als Cultur (das Gedanken-
spiel was nebenbey dadurch erregt wird, ist blos die
Wirkung einer gleichsam mechanischen Association) und
hat, durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als
jede andere der schönen Künste. Daher verlangt sie,
wie jeder Genuß, öftern Wechsel und hält die mehrma-
lige Wiederholung nicht aus, ohne Ueberdruß zu erzeu-
gen. Der Reitz derselben, der sich so allgemein mitthei-
len läßt, scheint darauf zu beruhen: daß jeder Ausdruck
der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der
dem Sinne desselben angemessen ist: daß dieser Ton
mehr oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeich-
net und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der
denn in diesem ungekehrt auch die Jdee erregt, die in
der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird und
daß, so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine
jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindun-
gen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem gan-

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Nach der Dichtkunſt wuͤrde ich, wenn es um den
Reitz und Bewegung des Gemuͤths zu thun iſt,

diejenige, welche ihr unter den redenden am naͤchſten
kommt und ſich damit auch ſehr natuͤrlich vereinigen laͤßt,
naͤmlich die Tonkunſt ſetzen. Denn, ob ſie zwar durch
lauter Empfindungen ohne Begriffe ſpricht, mithin
nicht, wie die Poeſie, etwas zum Nachdenken uͤbrig blei-
ben laͤßt, ſo bewegt ſie doch das Gemuͤth mannigfaltiger
und, obgleich blos voruͤbergehend, doch inniglicher, iſt
aber freylich mehr Genuß als Cultur (das Gedanken-
ſpiel was nebenbey dadurch erregt wird, iſt blos die
Wirkung einer gleichſam mechaniſchen Aſſociation) und
hat, durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als
jede andere der ſchoͤnen Kuͤnſte. Daher verlangt ſie,
wie jeder Genuß, oͤftern Wechſel und haͤlt die mehrma-
lige Wiederholung nicht aus, ohne Ueberdruß zu erzeu-
gen. Der Reitz derſelben, der ſich ſo allgemein mitthei-
len laͤßt, ſcheint darauf zu beruhen: daß jeder Ausdruck
der Sprache im Zuſammenhange einen Ton hat, der
dem Sinne deſſelben angemeſſen iſt: daß dieſer Ton
mehr oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeich-
net und gegenſeitig auch im Hoͤrenden hervorbringt, der
denn in dieſem ungekehrt auch die Jdee erregt, die in
der Sprache mit ſolchem Tone ausgedruͤckt wird und
daß, ſo wie die Modulation gleichſam eine allgemeine
jedem Menſchen verſtaͤndliche Sprache der Empfindun-
gen iſt, die Tonkunſt dieſe fuͤr ſich allein in ihrem gan-

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[216/0280] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Nach der Dichtkunſt wuͤrde ich, wenn es um den Reitz und Bewegung des Gemuͤths zu thun iſt, diejenige, welche ihr unter den redenden am naͤchſten kommt und ſich damit auch ſehr natuͤrlich vereinigen laͤßt, naͤmlich die Tonkunſt ſetzen. Denn, ob ſie zwar durch lauter Empfindungen ohne Begriffe ſpricht, mithin nicht, wie die Poeſie, etwas zum Nachdenken uͤbrig blei- ben laͤßt, ſo bewegt ſie doch das Gemuͤth mannigfaltiger und, obgleich blos voruͤbergehend, doch inniglicher, iſt aber freylich mehr Genuß als Cultur (das Gedanken- ſpiel was nebenbey dadurch erregt wird, iſt blos die Wirkung einer gleichſam mechaniſchen Aſſociation) und hat, durch Vernunft beurtheilt, weniger Werth, als jede andere der ſchoͤnen Kuͤnſte. Daher verlangt ſie, wie jeder Genuß, oͤftern Wechſel und haͤlt die mehrma- lige Wiederholung nicht aus, ohne Ueberdruß zu erzeu- gen. Der Reitz derſelben, der ſich ſo allgemein mitthei- len laͤßt, ſcheint darauf zu beruhen: daß jeder Ausdruck der Sprache im Zuſammenhange einen Ton hat, der dem Sinne deſſelben angemeſſen iſt: daß dieſer Ton mehr oder weniger einen Affect des Sprechenden bezeich- net und gegenſeitig auch im Hoͤrenden hervorbringt, der denn in dieſem ungekehrt auch die Jdee erregt, die in der Sprache mit ſolchem Tone ausgedruͤckt wird und daß, ſo wie die Modulation gleichſam eine allgemeine jedem Menſchen verſtaͤndliche Sprache der Empfindun- gen iſt, die Tonkunſt dieſe fuͤr ſich allein in ihrem gan-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/280>, abgerufen am 28.11.2024.