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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
thums gebraucht werden können, den geheimen Verdacht
wegen einer künstlichen Ueberlistung nicht ganz vertilgen
können. Jn der Dichtkunst geht alles ehrlich und auf-
richtig zu. Sie erklärt sich: ein bloßes unterhaltendes
Spiel mit der Einbildungskraft und zwar der Form
nach, einstimmig mit Verstandesgesetzen treiben zu wol-
len und verlangt nicht den Verstand durch sinnliche Dar-
stellung zu überschleichen und zu verstricken. *)

*) Jch muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein
reines Verguügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der
besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parle-
ments- oder Canzelredners jederzeit mit dem unangeneh-
men Gefühl der Misbilligung einer hinterlistigen Kunst
vermengt war, die die Menschen als Maschinen in wichti-
gen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen versteht, welches
im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bey ihnen verlieren
muß. Beredheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorick)
gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria)
ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen
Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeynt,
oder auch wirklich gut seyn, als sie wollen) gar keiner Ach-
tung würdig. Auch erhob sie sich nur, so wohl in Athen
als in Rom, zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da der Staat
seinem Verderben zu eilte und wahre patriotische Denkungs-
art erloschen war. Wer bey klarer Einsicht in Sachen die
Sprache nach ihrem Reichthum und Reinigkeit in seiner
Gewalt hat und, bey einer fruchtbaren zur Darstellung sei-
ner Jdeen tüchtigen Einbildungskraft lebhaften Herzensan-
theil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi
peritus,
der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie
ihn Cicero haben will, ohne doch diesem Jdeal selbst immer
treu geblieben zu seyn.
O 4

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
thums gebraucht werden koͤnnen, den geheimen Verdacht
wegen einer kuͤnſtlichen Ueberliſtung nicht ganz vertilgen
koͤnnen. Jn der Dichtkunſt geht alles ehrlich und auf-
richtig zu. Sie erklaͤrt ſich: ein bloßes unterhaltendes
Spiel mit der Einbildungskraft und zwar der Form
nach, einſtimmig mit Verſtandesgeſetzen treiben zu wol-
len und verlangt nicht den Verſtand durch ſinnliche Dar-
ſtellung zu uͤberſchleichen und zu verſtricken. *)

*) Jch muß geſtehen: daß ein ſchoͤnes Gedicht mir immer ein
reines Verguuͤgen gemacht hat, anſtatt daß die Leſung der
beſten Rede eines roͤmiſchen Volks- oder jetzigen Parle-
ments- oder Canzelredners jederzeit mit dem unangeneh-
men Gefuͤhl der Misbilligung einer hinterliſtigen Kunſt
vermengt war, die die Menſchen als Maſchinen in wichti-
gen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen verſteht, welches
im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bey ihnen verlieren
muß. Beredheit und Wohlredenheit (zuſammen Rhetorick)
gehoͤren zur ſchoͤnen Kunſt; aber Rednerkunſt (ars oratoria)
iſt, als Kunſt ſich der Schwaͤchen der Menſchen zu ſeinen
Abſichten zu bedienen (dieſe moͤgen immer ſo gut gemeynt,
oder auch wirklich gut ſeyn, als ſie wollen) gar keiner Ach-
tung wuͤrdig. Auch erhob ſie ſich nur, ſo wohl in Athen
als in Rom, zur hoͤchſten Stufe zu einer Zeit, da der Staat
ſeinem Verderben zu eilte und wahre patriotiſche Denkungs-
art erloſchen war. Wer bey klarer Einſicht in Sachen die
Sprache nach ihrem Reichthum und Reinigkeit in ſeiner
Gewalt hat und, bey einer fruchtbaren zur Darſtellung ſei-
ner Jdeen tuͤchtigen Einbildungskraft lebhaften Herzensan-
theil am wahren Guten nimmt, iſt der vir bonus dicendi
peritus,
der Redner ohne Kunſt, aber voll Nachdruck, wie
ihn Cicero haben will, ohne doch dieſem Jdeal ſelbſt immer
treu geblieben zu ſeyn.
O 4
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[215/0279] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. thums gebraucht werden koͤnnen, den geheimen Verdacht wegen einer kuͤnſtlichen Ueberliſtung nicht ganz vertilgen koͤnnen. Jn der Dichtkunſt geht alles ehrlich und auf- richtig zu. Sie erklaͤrt ſich: ein bloßes unterhaltendes Spiel mit der Einbildungskraft und zwar der Form nach, einſtimmig mit Verſtandesgeſetzen treiben zu wol- len und verlangt nicht den Verſtand durch ſinnliche Dar- ſtellung zu uͤberſchleichen und zu verſtricken. *) *) Jch muß geſtehen: daß ein ſchoͤnes Gedicht mir immer ein reines Verguuͤgen gemacht hat, anſtatt daß die Leſung der beſten Rede eines roͤmiſchen Volks- oder jetzigen Parle- ments- oder Canzelredners jederzeit mit dem unangeneh- men Gefuͤhl der Misbilligung einer hinterliſtigen Kunſt vermengt war, die die Menſchen als Maſchinen in wichti- gen Dingen zu einem Urtheile zu bewegen verſteht, welches im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bey ihnen verlieren muß. Beredheit und Wohlredenheit (zuſammen Rhetorick) gehoͤren zur ſchoͤnen Kunſt; aber Rednerkunſt (ars oratoria) iſt, als Kunſt ſich der Schwaͤchen der Menſchen zu ſeinen Abſichten zu bedienen (dieſe moͤgen immer ſo gut gemeynt, oder auch wirklich gut ſeyn, als ſie wollen) gar keiner Ach- tung wuͤrdig. Auch erhob ſie ſich nur, ſo wohl in Athen als in Rom, zur hoͤchſten Stufe zu einer Zeit, da der Staat ſeinem Verderben zu eilte und wahre patriotiſche Denkungs- art erloſchen war. Wer bey klarer Einſicht in Sachen die Sprache nach ihrem Reichthum und Reinigkeit in ſeiner Gewalt hat und, bey einer fruchtbaren zur Darſtellung ſei- ner Jdeen tuͤchtigen Einbildungskraft lebhaften Herzensan- theil am wahren Guten nimmt, iſt der vir bonus dicendi peritus, der Redner ohne Kunſt, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, ohne doch dieſem Jdeal ſelbſt immer treu geblieben zu ſeyn. O 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/279>, abgerufen am 28.11.2024.