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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
der sie unterworfen wird. Die Verwunderung, die an
Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, wel-
cher den Zuschauer bey dem Anblicke himmelansteigender Ge-
bürgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer,
tiefbeschatteter, zum schwermüthigen Nachdenken einladender
Einöden, u. s. w. ergreift, ist, bey der Sicherheit, darin
er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Ver-
such, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um
die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen, die dadurch
erregte Bewegung des Gemüths mit dem Ruhestande dessel-
ben zu verbinden und so der Natur in uns selbst, mithin
auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohl-
befindens Einflus haben kann, überlegen zu seyn. Denn
die Einbildungskraft nach dem Associationsgesetze macht un-
seren Zustand der Zufriedenheit physisch abhängig; aber eben
dieselbe nach Principien des Schematisms der Urtheilskraft,
(folglich sofern der Freyheit untergeordnet) ist Werkzeug der
Vernunft und ihrer Jdeen, als solches aber eine Macht,
unsere Unabhängigkeit gegen die Natureinflüsse zu behaupten,
das, was nach der ersteren gros ist, als klein abzuwürdigen
und so das Schlechthin-Große nur in seiner (des Subjects)
eigenen Bestimmung zu setzen. Diese Reflexion der ästheti-
schen Urtheilskraft, zur Angemessenheit mit der Vernunft,
(doch ohne einen bestimmten Begrif derselben) zu erheben,
stellt sie den Gegenstand, selbst durch die objective Unange-
messenheit der Einbildungskraft in ihrer größten Erweiterung
für die Vernunft (als Vermögen der Jdeen) doch als sub-
jectiv zweckmäßig vor.

Man muß hier überhaupt darauf Acht haben, was oben
schon erinnert worden, daß in der transcendentalen Aesthetik
der Urtheilskraft lediglich von reinen ästhetischen Urtheilen
die Rede seyn müsse, folglich die Beyspiele nicht von solchen

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
der ſie unterworfen wird. Die Verwunderung, die an
Schreck grenzt, das Grauſen und der heilige Schauer, wel-
cher den Zuſchauer bey dem Anblicke himmelanſteigender Ge-
buͤrgsmaſſen, tiefer Schluͤnde und darin tobender Gewaͤſſer,
tiefbeſchatteter, zum ſchwermuͤthigen Nachdenken einladender
Einoͤden, u. ſ. w. ergreift, iſt, bey der Sicherheit, darin
er ſich weiß, nicht wirkliche Furcht, ſondern nur ein Ver-
ſuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulaſſen, um
die Macht ebendeſſelben Vermoͤgens zu fuͤhlen, die dadurch
erregte Bewegung des Gemuͤths mit dem Ruheſtande deſſel-
ben zu verbinden und ſo der Natur in uns ſelbſt, mithin
auch der außer uns, ſofern ſie auf das Gefuͤhl unſeres Wohl-
befindens Einflus haben kann, uͤberlegen zu ſeyn. Denn
die Einbildungskraft nach dem Aſſociationsgeſetze macht un-
ſeren Zuſtand der Zufriedenheit phyſiſch abhaͤngig; aber eben
dieſelbe nach Principien des Schematisms der Urtheilskraft,
(folglich ſofern der Freyheit untergeordnet) iſt Werkzeug der
Vernunft und ihrer Jdeen, als ſolches aber eine Macht,
unſere Unabhaͤngigkeit gegen die Natureinfluͤſſe zu behaupten,
das, was nach der erſteren gros iſt, als klein abzuwuͤrdigen
und ſo das Schlechthin-Große nur in ſeiner (des Subjects)
eigenen Beſtimmung zu ſetzen. Dieſe Reflexion der aͤſtheti-
ſchen Urtheilskraft, zur Angemeſſenheit mit der Vernunft,
(doch ohne einen beſtimmten Begrif derſelben) zu erheben,
ſtellt ſie den Gegenſtand, ſelbſt durch die objective Unange-
meſſenheit der Einbildungskraft in ihrer groͤßten Erweiterung
fuͤr die Vernunft (als Vermoͤgen der Jdeen) doch als ſub-
jectiv zweckmaͤßig vor.

Man muß hier uͤberhaupt darauf Acht haben, was oben
ſchon erinnert worden, daß in der tranſcendentalen Aeſthetik
der Urtheilskraft lediglich von reinen aͤſthetiſchen Urtheilen
die Rede ſeyn muͤſſe, folglich die Beyſpiele nicht von ſolchen

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[116/0180] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. der ſie unterworfen wird. Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grauſen und der heilige Schauer, wel- cher den Zuſchauer bey dem Anblicke himmelanſteigender Ge- buͤrgsmaſſen, tiefer Schluͤnde und darin tobender Gewaͤſſer, tiefbeſchatteter, zum ſchwermuͤthigen Nachdenken einladender Einoͤden, u. ſ. w. ergreift, iſt, bey der Sicherheit, darin er ſich weiß, nicht wirkliche Furcht, ſondern nur ein Ver- ſuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulaſſen, um die Macht ebendeſſelben Vermoͤgens zu fuͤhlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemuͤths mit dem Ruheſtande deſſel- ben zu verbinden und ſo der Natur in uns ſelbſt, mithin auch der außer uns, ſofern ſie auf das Gefuͤhl unſeres Wohl- befindens Einflus haben kann, uͤberlegen zu ſeyn. Denn die Einbildungskraft nach dem Aſſociationsgeſetze macht un- ſeren Zuſtand der Zufriedenheit phyſiſch abhaͤngig; aber eben dieſelbe nach Principien des Schematisms der Urtheilskraft, (folglich ſofern der Freyheit untergeordnet) iſt Werkzeug der Vernunft und ihrer Jdeen, als ſolches aber eine Macht, unſere Unabhaͤngigkeit gegen die Natureinfluͤſſe zu behaupten, das, was nach der erſteren gros iſt, als klein abzuwuͤrdigen und ſo das Schlechthin-Große nur in ſeiner (des Subjects) eigenen Beſtimmung zu ſetzen. Dieſe Reflexion der aͤſtheti- ſchen Urtheilskraft, zur Angemeſſenheit mit der Vernunft, (doch ohne einen beſtimmten Begrif derſelben) zu erheben, ſtellt ſie den Gegenſtand, ſelbſt durch die objective Unange- meſſenheit der Einbildungskraft in ihrer groͤßten Erweiterung fuͤr die Vernunft (als Vermoͤgen der Jdeen) doch als ſub- jectiv zweckmaͤßig vor. Man muß hier uͤberhaupt darauf Acht haben, was oben ſchon erinnert worden, daß in der tranſcendentalen Aeſthetik der Urtheilskraft lediglich von reinen aͤſthetiſchen Urtheilen die Rede ſeyn muͤſſe, folglich die Beyſpiele nicht von ſolchen

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/180>, abgerufen am 09.05.2024.