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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
Uebung desselben uns überlassen und obliegend ist, und
hierin ist Wahrheit; so sehr sich auch der Mensch, wenn
er seine Reflexion bis dahin erstreckt, seiner gegenwär-
tigen wirklichen Ohnmacht bewußt seyn mag.

Dieses Princip scheint zwar zu weit hergeholt und
vernünftelt, mithin für ein ästhetisches Urtheil über-
schwenglich zu seyn; allein die Beobachtung des Men-
schen beweiset das Gegentheil und daß es den gemeinsten
Beurtheilungen zum Grunde liegen kann, ob man sich
gleich desselben nicht immer bewußt ist. Denn was ist
das, was selbst den Wilden ein Gegenstand der größten
Bewunderung ist? Ein Mensch der nicht erschrickt, der
sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich
aber mit völliger Ueberlegung rüstig zu Werke geht.
Auch im allergesittesten Zustande bleibt diese vorzügliche
Hochachtung für den Krieger; nur daß man noch dazu
verlangt, daß er zugleich alle Tugenden des Friedens,
Sanftmuth, Mitleid und selbst geziemende Sorgfalt für
seine eigne Person beweise, eben darum weil daran die
Unbezwinglichkeit seines Gemüths durch Gefahr erkannt
wird. Daher mag man noch so viel in der Vergleichung
des Staatsmanns mit dem Feldherrn über die Vorzüg-
lichkeit der Achtung, die einer vor dem andern verdient,
streiten; das ästhetische Urtheil entscheidet für den letz-
tern. Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Hei-
ligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat et-
was Erhabenes an sich und macht zugleich die Den-

G 5

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Uebung deſſelben uns uͤberlaſſen und obliegend iſt, und
hierin iſt Wahrheit; ſo ſehr ſich auch der Menſch, wenn
er ſeine Reflexion bis dahin erſtreckt, ſeiner gegenwaͤr-
tigen wirklichen Ohnmacht bewußt ſeyn mag.

Dieſes Princip ſcheint zwar zu weit hergeholt und
vernuͤnftelt, mithin fuͤr ein aͤſthetiſches Urtheil uͤber-
ſchwenglich zu ſeyn; allein die Beobachtung des Men-
ſchen beweiſet das Gegentheil und daß es den gemeinſten
Beurtheilungen zum Grunde liegen kann, ob man ſich
gleich deſſelben nicht immer bewußt iſt. Denn was iſt
das, was ſelbſt den Wilden ein Gegenſtand der groͤßten
Bewunderung iſt? Ein Menſch der nicht erſchrickt, der
ſich nicht fuͤrchtet, alſo der Gefahr nicht weicht, zugleich
aber mit voͤlliger Ueberlegung ruͤſtig zu Werke geht.
Auch im allergeſitteſten Zuſtande bleibt dieſe vorzuͤgliche
Hochachtung fuͤr den Krieger; nur daß man noch dazu
verlangt, daß er zugleich alle Tugenden des Friedens,
Sanftmuth, Mitleid und ſelbſt geziemende Sorgfalt fuͤr
ſeine eigne Perſon beweiſe, eben darum weil daran die
Unbezwinglichkeit ſeines Gemuͤths durch Gefahr erkannt
wird. Daher mag man noch ſo viel in der Vergleichung
des Staatsmanns mit dem Feldherrn uͤber die Vorzuͤg-
lichkeit der Achtung, die einer vor dem andern verdient,
ſtreiten; das aͤſthetiſche Urtheil entſcheidet fuͤr den letz-
tern. Selbſt der Krieg, wenn er mit Ordnung und Hei-
ligachtung der buͤrgerlichen Rechte gefuͤhrt wird, hat et-
was Erhabenes an ſich und macht zugleich die Den-

G 5
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[105/0169] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Uebung deſſelben uns uͤberlaſſen und obliegend iſt, und hierin iſt Wahrheit; ſo ſehr ſich auch der Menſch, wenn er ſeine Reflexion bis dahin erſtreckt, ſeiner gegenwaͤr- tigen wirklichen Ohnmacht bewußt ſeyn mag. Dieſes Princip ſcheint zwar zu weit hergeholt und vernuͤnftelt, mithin fuͤr ein aͤſthetiſches Urtheil uͤber- ſchwenglich zu ſeyn; allein die Beobachtung des Men- ſchen beweiſet das Gegentheil und daß es den gemeinſten Beurtheilungen zum Grunde liegen kann, ob man ſich gleich deſſelben nicht immer bewußt iſt. Denn was iſt das, was ſelbſt den Wilden ein Gegenſtand der groͤßten Bewunderung iſt? Ein Menſch der nicht erſchrickt, der ſich nicht fuͤrchtet, alſo der Gefahr nicht weicht, zugleich aber mit voͤlliger Ueberlegung ruͤſtig zu Werke geht. Auch im allergeſitteſten Zuſtande bleibt dieſe vorzuͤgliche Hochachtung fuͤr den Krieger; nur daß man noch dazu verlangt, daß er zugleich alle Tugenden des Friedens, Sanftmuth, Mitleid und ſelbſt geziemende Sorgfalt fuͤr ſeine eigne Perſon beweiſe, eben darum weil daran die Unbezwinglichkeit ſeines Gemuͤths durch Gefahr erkannt wird. Daher mag man noch ſo viel in der Vergleichung des Staatsmanns mit dem Feldherrn uͤber die Vorzuͤg- lichkeit der Achtung, die einer vor dem andern verdient, ſtreiten; das aͤſthetiſche Urtheil entſcheidet fuͤr den letz- tern. Selbſt der Krieg, wenn er mit Ordnung und Hei- ligachtung der buͤrgerlichen Rechte gefuͤhrt wird, hat et- was Erhabenes an ſich und macht zugleich die Den- G 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/169>, abgerufen am 09.05.2024.