Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Architectonik der reinen Vernunft.

Die Philosophie der reinen Vernunft ist nun entwe-
der Propädevtik (Vorübung), welche das Vermögen der
Vernunft in Ansehung aller reinen Erkentniß a priori un-
tersucht und heißt Critik, oder zweitens das System der
reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze (wahre sowol
als scheinbare) philosophische Erkentniß aus reiner Ver-
nunft im systematischen Zusammenhange, und heißt Me-
taphysik
; wiewol dieser Nahme auch der ganzen reinen
Philosophie mit Inbegriff der Critik gegeben werden kan,
um, sowol die Untersuchung alles dessen, was iemals a
priori
erkant werden kan, als auch die Darstellung desie-
nigen, was ein System reiner philosophischen Erkentnisse
dieser Art ausmacht, von allem empirischen aber, imglei-
chen dem mathematischen Vernunftgebrauche unterschieden
ist, zusammen zu fassen.

Die Metaphysik theilet sich in die, des speculativen
und practischen Gebrauchs der reinen Vernunft und ist also
entweder Metaphysik der Natur, oder Metaphysik der
Sitten. Jene enthält alle reine Vernunftprincipien aus
blossen Begriffen (mithin mit Ausschliessung der Mathe-
matik) von dem theoretischen Erkentnisse aller Dinge, die-
se die Principien, welche das Thun und Lassen a priori
bestimmen und nothwendig machen. Nun ist die Morali-
tät die einzige Gesetzmässigkeit der Handlungen, die völlig
a priori aus Principien abgeleitet werden kan. Daher
ist die Metaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral,
in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedin-

gung)
G g g 5
Die Architectonik der reinen Vernunft.

Die Philoſophie der reinen Vernunft iſt nun entwe-
der Propaͤdevtik (Voruͤbung), welche das Vermoͤgen der
Vernunft in Anſehung aller reinen Erkentniß a priori un-
terſucht und heißt Critik, oder zweitens das Syſtem der
reinen Vernunft (Wiſſenſchaft), die ganze (wahre ſowol
als ſcheinbare) philoſophiſche Erkentniß aus reiner Ver-
nunft im ſyſtematiſchen Zuſammenhange, und heißt Me-
taphyſik
; wiewol dieſer Nahme auch der ganzen reinen
Philoſophie mit Inbegriff der Critik gegeben werden kan,
um, ſowol die Unterſuchung alles deſſen, was iemals a
priori
erkant werden kan, als auch die Darſtellung desie-
nigen, was ein Syſtem reiner philoſophiſchen Erkentniſſe
dieſer Art ausmacht, von allem empiriſchen aber, imglei-
chen dem mathematiſchen Vernunftgebrauche unterſchieden
iſt, zuſammen zu faſſen.

Die Metaphyſik theilet ſich in die, des ſpeculativen
und practiſchen Gebrauchs der reinen Vernunft und iſt alſo
entweder Metaphyſik der Natur, oder Metaphyſik der
Sitten. Jene enthaͤlt alle reine Vernunftprincipien aus
bloſſen Begriffen (mithin mit Ausſchlieſſung der Mathe-
matik) von dem theoretiſchen Erkentniſſe aller Dinge, die-
ſe die Principien, welche das Thun und Laſſen a priori
beſtimmen und nothwendig machen. Nun iſt die Morali-
taͤt die einzige Geſetzmaͤſſigkeit der Handlungen, die voͤllig
a priori aus Principien abgeleitet werden kan. Daher
iſt die Metaphyſik der Sitten eigentlich die reine Moral,
in welcher keine Anthropologie (keine empiriſche Bedin-

gung)
G g g 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0871" n="841"/>
          <fw place="top" type="header">Die Architectonik der reinen Vernunft.</fw><lb/>
          <p>Die Philo&#x017F;ophie der reinen Vernunft i&#x017F;t nun entwe-<lb/>
der Propa&#x0364;devtik (Voru&#x0364;bung), welche das Vermo&#x0364;gen der<lb/>
Vernunft in An&#x017F;ehung aller reinen Erkentniß <hi rendition="#aq">a priori</hi> un-<lb/>
ter&#x017F;ucht und heißt Critik, oder zweitens das Sy&#x017F;tem der<lb/>
reinen Vernunft (Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft), die ganze (wahre &#x017F;owol<lb/>
als &#x017F;cheinbare) philo&#x017F;ophi&#x017F;che Erkentniß aus reiner Ver-<lb/>
nunft im &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhange, und heißt <hi rendition="#fr">Me-<lb/>
taphy&#x017F;ik</hi>; wiewol die&#x017F;er Nahme auch der ganzen reinen<lb/>
Philo&#x017F;ophie mit Inbegriff der Critik gegeben werden kan,<lb/>
um, &#x017F;owol die Unter&#x017F;uchung alles de&#x017F;&#x017F;en, was iemals <hi rendition="#aq">a<lb/>
priori</hi> erkant werden kan, als auch die Dar&#x017F;tellung desie-<lb/>
nigen, was ein Sy&#x017F;tem reiner philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Erkentni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
die&#x017F;er Art ausmacht, von allem empiri&#x017F;chen aber, imglei-<lb/>
chen dem mathemati&#x017F;chen Vernunftgebrauche unter&#x017F;chieden<lb/>
i&#x017F;t, zu&#x017F;ammen zu fa&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Die Metaphy&#x017F;ik theilet &#x017F;ich in die, des <hi rendition="#fr">&#x017F;peculativen</hi><lb/>
und practi&#x017F;chen Gebrauchs der reinen Vernunft und i&#x017F;t al&#x017F;o<lb/>
entweder <hi rendition="#fr">Metaphy&#x017F;ik</hi> der <hi rendition="#fr">Natur</hi>, oder <hi rendition="#fr">Metaphy&#x017F;ik</hi> der<lb/>
Sitten. Jene entha&#x0364;lt alle reine Vernunftprincipien aus<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;en Begriffen (mithin mit Aus&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;ung der Mathe-<lb/>
matik) von dem theoreti&#x017F;chen Erkentni&#x017F;&#x017F;e aller Dinge, die-<lb/>
&#x017F;e die Principien, welche das Thun und La&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#aq">a priori</hi><lb/>
be&#x017F;timmen und nothwendig machen. Nun i&#x017F;t die Morali-<lb/>
ta&#x0364;t die einzige Ge&#x017F;etzma&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeit der Handlungen, die vo&#x0364;llig<lb/><hi rendition="#aq">a priori</hi> aus Principien abgeleitet werden kan. Daher<lb/>
i&#x017F;t die Metaphy&#x017F;ik der Sitten eigentlich die reine Moral,<lb/>
in welcher keine Anthropologie (keine empiri&#x017F;che Bedin-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g g 5</fw><fw place="bottom" type="catch">gung)</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[841/0871] Die Architectonik der reinen Vernunft. Die Philoſophie der reinen Vernunft iſt nun entwe- der Propaͤdevtik (Voruͤbung), welche das Vermoͤgen der Vernunft in Anſehung aller reinen Erkentniß a priori un- terſucht und heißt Critik, oder zweitens das Syſtem der reinen Vernunft (Wiſſenſchaft), die ganze (wahre ſowol als ſcheinbare) philoſophiſche Erkentniß aus reiner Ver- nunft im ſyſtematiſchen Zuſammenhange, und heißt Me- taphyſik; wiewol dieſer Nahme auch der ganzen reinen Philoſophie mit Inbegriff der Critik gegeben werden kan, um, ſowol die Unterſuchung alles deſſen, was iemals a priori erkant werden kan, als auch die Darſtellung desie- nigen, was ein Syſtem reiner philoſophiſchen Erkentniſſe dieſer Art ausmacht, von allem empiriſchen aber, imglei- chen dem mathematiſchen Vernunftgebrauche unterſchieden iſt, zuſammen zu faſſen. Die Metaphyſik theilet ſich in die, des ſpeculativen und practiſchen Gebrauchs der reinen Vernunft und iſt alſo entweder Metaphyſik der Natur, oder Metaphyſik der Sitten. Jene enthaͤlt alle reine Vernunftprincipien aus bloſſen Begriffen (mithin mit Ausſchlieſſung der Mathe- matik) von dem theoretiſchen Erkentniſſe aller Dinge, die- ſe die Principien, welche das Thun und Laſſen a priori beſtimmen und nothwendig machen. Nun iſt die Morali- taͤt die einzige Geſetzmaͤſſigkeit der Handlungen, die voͤllig a priori aus Principien abgeleitet werden kan. Daher iſt die Metaphyſik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empiriſche Bedin- gung) G g g 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/871
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 841. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/871>, abgerufen am 25.11.2024.