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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Methodenlehre II. Hauptst. III. Absch.
comparativ zureichend, wenn ich gar keine andere Bedin-
gungen weis, unter denen der Zweck zu erreichen wäre;
aber sie ist schlechthin und vor iederman zureichend, wenn
ich gewiß weis: daß niemand andere Bedingungen ken-
nen könne, die auf den vorgesezten Zweck führen. Im
ersten Falle ist meine Voraussetzung und das Vorwahrhalten
gewisser Bedingungen ein blos zufälliger, im zweiten Falle
aber ein nothwendiger Glaube. Der Arzt muß bey einem
Kranken, der in Gefahr ist, etwas thun, kent aber
die Krankheit nicht. Er sieht auf die Erscheinungen und
urtheilt, weil er nichts besseres weiß, es sey die Schwind-
sucht. Sein Glaube ist selbst in seinem eigenen Urtheile
blos zufällig, ein anderer möchte es vielleicht besser tref-
fen. Ich nenne dergleichen zufälligen Glauben, der aber
dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewissen Handlun-
gen zum Grunde liegt, den pragmatischen Glauben.

Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas blosse Ueber-
redung, oder wenigstens subiective Ueberzeugung, d. i. fe-
stes Glauben sey, was iemand behauptet, ist das Wet-
ten
. Oefters spricht iemand seine Sätze mit so zuver-
sichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Besorg-
niß des Irrthums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine
Wette macht ihn stutzig. Bisweilen zeigt sich: daß er zwar
Ueberredung genug, die auf einen Ducaten an Werth ge-
schäzt werden kan, aber nicht auf zehn, besitze. Denn,
den ersten wagt er noch wol, aber bey zehnen wird er

aller-

Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch.
comparativ zureichend, wenn ich gar keine andere Bedin-
gungen weis, unter denen der Zweck zu erreichen waͤre;
aber ſie iſt ſchlechthin und vor iederman zureichend, wenn
ich gewiß weis: daß niemand andere Bedingungen ken-
nen koͤnne, die auf den vorgeſezten Zweck fuͤhren. Im
erſten Falle iſt meine Vorausſetzung und das Vorwahrhalten
gewiſſer Bedingungen ein blos zufaͤlliger, im zweiten Falle
aber ein nothwendiger Glaube. Der Arzt muß bey einem
Kranken, der in Gefahr iſt, etwas thun, kent aber
die Krankheit nicht. Er ſieht auf die Erſcheinungen und
urtheilt, weil er nichts beſſeres weiß, es ſey die Schwind-
ſucht. Sein Glaube iſt ſelbſt in ſeinem eigenen Urtheile
blos zufaͤllig, ein anderer moͤchte es vielleicht beſſer tref-
fen. Ich nenne dergleichen zufaͤlligen Glauben, der aber
dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewiſſen Handlun-
gen zum Grunde liegt, den pragmatiſchen Glauben.

Der gewoͤhnliche Probierſtein: ob etwas bloſſe Ueber-
redung, oder wenigſtens ſubiective Ueberzeugung, d. i. fe-
ſtes Glauben ſey, was iemand behauptet, iſt das Wet-
ten
. Oefters ſpricht iemand ſeine Saͤtze mit ſo zuver-
ſichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Beſorg-
niß des Irrthums gaͤnzlich abgelegt zu haben ſcheint. Eine
Wette macht ihn ſtutzig. Bisweilen zeigt ſich: daß er zwar
Ueberredung genug, die auf einen Ducaten an Werth ge-
ſchaͤzt werden kan, aber nicht auf zehn, beſitze. Denn,
den erſten wagt er noch wol, aber bey zehnen wird er

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[824/0854] Methodenlehre II. Hauptſt. III. Abſch. comparativ zureichend, wenn ich gar keine andere Bedin- gungen weis, unter denen der Zweck zu erreichen waͤre; aber ſie iſt ſchlechthin und vor iederman zureichend, wenn ich gewiß weis: daß niemand andere Bedingungen ken- nen koͤnne, die auf den vorgeſezten Zweck fuͤhren. Im erſten Falle iſt meine Vorausſetzung und das Vorwahrhalten gewiſſer Bedingungen ein blos zufaͤlliger, im zweiten Falle aber ein nothwendiger Glaube. Der Arzt muß bey einem Kranken, der in Gefahr iſt, etwas thun, kent aber die Krankheit nicht. Er ſieht auf die Erſcheinungen und urtheilt, weil er nichts beſſeres weiß, es ſey die Schwind- ſucht. Sein Glaube iſt ſelbſt in ſeinem eigenen Urtheile blos zufaͤllig, ein anderer moͤchte es vielleicht beſſer tref- fen. Ich nenne dergleichen zufaͤlligen Glauben, der aber dem wirklichen Gebrauche der Mittel zu gewiſſen Handlun- gen zum Grunde liegt, den pragmatiſchen Glauben. Der gewoͤhnliche Probierſtein: ob etwas bloſſe Ueber- redung, oder wenigſtens ſubiective Ueberzeugung, d. i. fe- ſtes Glauben ſey, was iemand behauptet, iſt das Wet- ten. Oefters ſpricht iemand ſeine Saͤtze mit ſo zuver- ſichtlichem und unlenkbarem Trotze aus, daß er alle Beſorg- niß des Irrthums gaͤnzlich abgelegt zu haben ſcheint. Eine Wette macht ihn ſtutzig. Bisweilen zeigt ſich: daß er zwar Ueberredung genug, die auf einen Ducaten an Werth ge- ſchaͤzt werden kan, aber nicht auf zehn, beſitze. Denn, den erſten wagt er noch wol, aber bey zehnen wird er aller-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 824. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/854>, abgerufen am 23.11.2024.